Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
kalten Morgen ging Nancy von Poplar in ihren Laden. Vor dem Eingang lag ein Haufen Pappe mit dem roten Aufdruck »zerbrechlich«. Sie beugte sich mit ihrem Schlüssel weit vor und schaute nach unten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Da sah sie einen Finger aus dem Karton ragen. Erschrocken fuhr sie zurück, weil sie dachte, es müsse eine Leiche von einem Bandenkrieg sein. Sie tippte mit dem Fuß an die Pappe und überlegte, ob der Mann wohl zerstückelt wäre, aber der Finger bewegte sich, eine Klappe öffnete sich wie eine Falltür und dahinter war dieser Mann mit schwarzem, behaartem Gesicht und der Schweißerbrille vor den Augen. Sie dachte, er müsse wohl im Weltkrieg Jagdflieger gewesen sein.
Der Mann drehte sich auf die Seite und zog die Knie an. Dann tastete er sich an der Tür entlang und zog sich an der Klinke aus dem Karton … Es war eine Kühlschrankverpackung.
»Bin ich im Weg?«
»Überhaupt nicht, aber Sie sind fast auf der Straße. Können Sie nicht sehen?«
»Nein.«
Es herrschte arktische Kälte, und die Hände des Mannes waren schmutzig blau. Autos holperten über den Höcker in der Straße und setzten schabend auf. Nancy sagte: »Wollen Sie sich nicht drinnen ein bisschen aufwärmen?«
»Dürfte ich?«
Solche Sachen sagte auch Mr. Lawton immer. Dürfte ich? Sie öffnete den Laden und zog den Karton ins Hinterzimmer. Es kam ihr nicht richtig vor, ihn nach draußen zu werfen. Als sie zurückkam, stand er drinnen und hatte die Hände auf einer Figurinenlampe, wie Riley sie nannte – eine Frauengestalt, die ganz mit Tüchern behängt war und eine Lampenfassung auf dem Kopf hatte. Seine Finger tasteten sie so behutsam ab, um die Figur im Kopf nachzubilden, dass sie schön wurde.
»Ich bin Mrs. Riley.«
»Ich bin Mr. Johnson.«
Wer hätte es gedacht? Im Laufe der nächsten Monate wurden sie Freunde. Er war das einzige Geheimnis, das sie vor Riley hatte. Und dann verschwand er einfach. In gewisser Weise war es endgültig, denn der Mann, der schließlich wiederkam, war gebrechlich und unsicher. Er setzte sich mit zittrigen Armen hin.
»Was ist passiert?«, fragte Nancy besorgt.
»Man hat mir den Schädel eingetreten.« Seine Schweißerbrille rutschte auf der zerknautschten Nase. »Ich kann nicht mehr viel von der Gegenwart behalten. Heute Morgen, letzte Woche … das ist alles den Bach runter.«
Nancy zündete den Gasofen an und dachte an das Spiel, das Onkel Bertie immer angeregt hatte, wenn sie in Brighton waren. Es hieß »Kleine Geheimnisse«. Munter schlug sie vor: »Sollen wir etwas spielen?«
»In Ordnung.«
»Sie erzählen mir ein Geheimnis, und dann erzähle ich Ihnen eins.« Es ging darum, dass Leute Dummheiten erzählten, die sie mal gemacht hatten. (Onkel Bertie hatte mal in einem Geschäft eine Toilette benutzt und erst hinterher gemerkt, dass das Badezimmer zur Verkaufsausstellung gehörte.)
»Das ist unfair«, sagte Mr. Johnson. »Ich kann mich nachher nicht mehr daran erinnern, Sie aber wohl.«
»Ich erzähle es niemandem.«
Mr. Johnson sagte: »Ich hatte mal einen Sohn.«
Nancy schlug sich die Hand vor den Mund. Er beugte sich vor. Dunstschwaden stiegen von ihm auf, seine Schweißerbrille war beschlagen. Er erzählte von Sommern in Southport mit der gleichen Sehnsucht, die sie nach Brighton hegte. Und Nancy wartete und spürte, dass diesem Jungen etwas Schreckliches passiert war. aber er sagte nicht, was. Als Mr. Johnson am nächsten Tag wiederkam, erzählte Nancy ihm Dinge, die sie noch nie ausgesprochen und nie auszusprechen gedacht hatte – wie sie Riley kennen gelernt hatte, von dem Leben bei Lawtons, das sie verloren hatte, von den Kindern, die sie nie bekommen hatte … von dem Prozess. Und Mr. Johnson hörte zu und wärmte sich seine graublauen Hände: ein Gentleman, der sich an nichts erinnern würde.
Nancy schaute in das knisternde Feuer. Auf ihrem Schoß lag eine Plastiktüte. Sie hatte sie vor ein paar Wochen gefunden, als sie ihre Einkäufe aus dem Hinterzimmer holen wollte. Sie war voller Hefte, die vorn fein säuberlich nummeriert waren. Sie gehörten Mr. Johnson, dem Gentleman, der sich an nichts erinnern konnte. Nancy hatte gewartet, dass er wiederkäme, aber er war im Nebel verschwunden wie Riley auf seinem Weg nach Tottenham. Sie schaute verstohlen zur Tür … und griff in die Tüte. Es war falsch, das wusste sie, aber seit dem Tod der Anwältin hatte sich der Prozess wieder in ihre Gedanken geschoben. Gefühle von damals
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