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Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Titel: Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Brodrick
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Brief von Mrs. Glendinning bekommen«, wiederholte der Prior.
    Anselm hatte gerade fertig gefrühstückt, als er ans Telefon gerufen wurde. Auf dem Briefumschlag stand »Privat und dringend«, was Sylvester – in einem seltenen Anfall von Kompetenz – bewogen hatte, den Prior zu rufen, der sofort Elizabeth’ Handschrift erkannte.
    »Aber wer hat ihn abgeschickt?«, fragte Anselm.
    »Noch ein Freund, nehme ich an«, sagte der Prior. »Soll ich ihn dir vorlesen?«
    Anselm schaute nervös auf die Uhr. Ein Erwachsenenleben, das in der ersten Hälfte von Gerichtsterminen und in der zweiten von Glocken geprägt war, hatte Anselm (wie viele Prozessanwälte und Mönche) ein leicht neurotisches Verhältnis zur Zeit eingeimpft. »Nein danke«, sagte er. »Faxe es mir rüber, ja? Ich habe eine Verabredung in Camberwell.«
     
    Die Oberin führte Anselm durch verwirrende Korridore, die nur ein Architekt entworfen haben konnte, vorbei an verschiedenen Fotos von Ordensmitgliedern. Anselm fiel auf, wie die Haube sich im Laufe der Jahre verändert hatte: von einer spektakulären Konstruktion aus gestärktem Leinen hin zu einem schlichten Schleier. Als sie in den ummauerten Garten kamen, deutete Schwester Barbara auf einen von Kastanien gesäumten Weg. Am Ende saß eine ältere Frau im Rollstuhl, auf dem Kopf eine Wollmütze, die verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kissen hatte.
    Wie jeder vernünftige Ermittler hatte Anselm im Voraus Erkundigungen über seine Zeugin eingeholt. Aus seiner ersten telefonischen Anfrage und den ergänzenden Erzählungen der Oberin hatte Anselm bereits eine Menge erfahren. Vor sechzig Jahren, zu Beginn ihres Ordenslebens, hatte Schwester Dorothy ein Kinderheim in London geleitet, bevor sie Hausmutter in einer Privatschule in Carlisle wurde. Sie war sehr glücklich, aber ihr weiteres Leben stand beispielhaft für den Grundsatz, dass Dienen Vorrang vor persönlichen Neigungen hatte. Nach einem kurzen Zwischenspiel als Gefängnisseelsorgerin hatte man sie als Krankenschwester nach Afghanistan geschickt. Siebzehn Jahre später war sie nach Hause gekommen, um sich einen Weisheitszahn ziehen zu lassen. Sie ging nicht wieder zurück in ihr Bergkrankenhaus. Ihr einziges Andenken war eine afghanische Pakol, die Mütze, die zu ihrem Markenzeichen wurde.
    Anselms Schritte knirschten auf dem Kies, als er zu ihr ging. Sobald er in Hörweite war, sagte Schwester Dorothy: »Bis zu Ihrem Anruf habe ich nicht gewusst, dass sie gestorben ist.«
    Ihre Stimme war klar, aber etwas mühsam. Als Anselm sich auf eine Bank setzte, fügte sie hinzu: »Sie sind also ein alter Freund von ihr?«
    »Ja. Wir waren zusammen in derselben Anwaltskammer.«
    »Sagen Sie, war sie glücklich?«, fragte sie mit der brennenden Sorge einer alten Lehrerin.
    »Sehr.«
    »Erfolgreich?«
    »O ja.«
    Die Nonne lächelte seufzend. Äste warfen wiegende Schattenstreifen auf ihr Gesicht. »So, so, so«, sang sie leise vor sich hin. Ihre runzelige Haut hatte die weißliche Transparenz des Alters. Eine Delle im Profil ihrer Nase zeugte von einem schlecht verheilten Nasenbeinbruch, den sie (wie Anselm erfahren hatte) bei einem Gefängnisbesuch davongetragen hatte.
    Anselm erzählte von Elizabeth’ beruflichem Renommee, von ihrer Ehe und ihrem Sohn, während Schwester Dorothy gespannt zuhörte, um keine Einzelheit zu verpassen. Schließlich stellte Anselm geschickt fest: »Aber nach all diesen Jahren weiß ich trotzdem kaum etwas über ihre Vergangenheit.«
    Er wartete, hoffte, ja, betete.
    »Hat Sie Ihnen jemals das Foto gezeigt«, fragte sie abwesend mit erhobener Hand, als zeige sie auf eine Wand.
    Anselm beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ich glaube nicht.«
    »Das Familienfoto«, hakte Schwester Dorothy erstaunt nach, weil ihr Besucher offenbar nicht wusste, was sie meinte.
    »Nein«, antwortete Anselm, bemüht, nicht allzu interessiert zu klingen.
    »So, so, so«, sang Schwester Dorothy vor sich hin. Sie musterte Anselm, als ob sie drauf und dran wäre, ein Geheimnis zu verraten. »Das Foto sagt alles … Es ist alles da, schwarz auf weiß … eine glückliche Familie an einem Sonntagnachmittag irgendwann in den 1940er Jahren.«
    Der Teil in Anselm, der an das Walten der Vorsehung glaubte, jubelte innerlich vor Dankbarkeit. Er wartete ab, obwohl er darauf brannte, die Geschichte zu erfahren, die Elizabeth für sich behalten hatte.
    »Rechts steht ihr Vater«, sagte Schwester Dorothy. Fältchen drängten sich um ihre

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