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Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Titel: Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Brodrick
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sagte Nino, als sie in der Nähe von Marble Arch auf einer Bank saßen. »Ich stand an einer Straße zwischen Himmel und Hölle und schrieb Protokolle wegen Falschparkens. Da kam ein Reporter vorbei, und ich fragte ihn: ›Worauf warten die hier alle?‹  ›Auf nichts‹, sagte er. ›Sie kommen nicht in den Himmel, weil sie nichts Gutes getan haben, und sie kommen nicht in die Hölle, weil sie nichts Böses getan haben. Nicht gerade ein Knüller, aber trotzdem eine ganz gute Story.‹ Er zeigte mir die Schlagzeile auf seinem Notizblock: › Sie lebten ohne Lob und Tadel. ‹«
    Mehr sagte Nino nicht.
    »Und was soll das bedeuten?«, fragte George.
    Nino wurde resolut, als hätte man ihn nach der Bedeutung schraffierter Linien auf der Straße gefragt. »Sei nicht lauwarm, alter Freund. Das ist der einzige Weg zu Gnade oder Vergeltung.«
    Diesen Satz hatte George Elizabeth erzählt, und sie hatte ihn sich aufgeschrieben und ihn gebeten, jedes Wort zu wiederholen.
    Aber wozu? Wo war sie jetzt? Und wo war er?
    George überquerte die Blackfriars Bridge mit einem flüchtigen Blick auf Trespass Place. Am Nordufer der Themse ging er nach Osten und folgte der Straße nach Smithfield und Tower Hill – dem Weg auf die Isle of Dogs und ein Stück Brachland mit Vorhängeschlössern und Maschendrahtzäunen. Rechts von ihm floss ölig und prachtvoll der Fluss; links von ihm raste der Verkehr vorbei. Georges Gedanken wanderten zurück zu der Nacht, als er um drei Uhr morgens ein schmiedeeisernes Tor geöffnet hatte. Damals hatte er keinen Gedanken an Lob oder Tadel verschwendet.
    Drei aufgedonnerte Mädchen standen zitternd auf der anderen Seite.
    »Kommt rein«, sagte er. »Ich habe einen Wasserkocher und einen Toaster.«
    Er ging hinter ihnen her zu der Tür, die er nur angelehnt hatte, und schaute auf ihre nackten Beine, die bläulichen Venen und die Gänsehaut. Es war Ende November, der Monat peitschenden Regens und kurzer Tage, der Monat, in dem die Schaufenster vorweihnachtlich glitzerten. George machte Kakao. Er sagte ihnen nicht, dass alle Betten belegt waren und sie wieder gehen mussten. Sollten sie in Ruhe ihren heißen Kakao trinken, dachte er, viel war es ja nicht. Er ließ sie allein, um die üblichen Anrufe zu erledigen. Alle Notunterkünfte waren voll, aber in Fulham könnten sie sich um halb acht melden: Bis dahin waren es noch fünf Stunden; fünf Stunden, den Mut zu verlieren. George hatte schon lange gelernt, dass man bei manchen Jugendlichen nur eine einzige Chance bekam, ihnen eine Hand zu reichen, und selbst dann nahmen sie die Hilfe nicht an. Aber manche – das brachte ihn Nacht für Nacht an das Tor – nahmen sie an. Während er wartete, dass der Toast heraussprang, hörte George den ersten Namen: Riley, und dann schnappte er den zweiten auf: Pieman. Als er um die Ecke kam, hörten sie auf zu sprechen. Er sagte: »Danach müsst ihr weiter.« Es kam kein Protest.
    Er brachte sie ans Tor. Ihre Absätze klapperten auf den Gehwegplatten wie fallen gelassene Murmeln, und George kam sich – wie schon so oft – vor wie ein Mordkomplize. Eine von ihnen, die Jüngste, hatte über einem Ohr einen Drachen eintätowiert. Ihr Kopf war kahl rasiert. Die drei Mädchen waren schon gut fünfzig Meter weit weg, als George hinter ihnen herlief.
    »Wenn ihr euch wehren wollt, helfe ich euch.«
    Zwei starrten ihn an, die andere lachte. Sie wichen zurück in die Regenschleier.
    Das hätte eigentlich das Ende der Geschichte sein sollen.
    Aber etwa eine Woche später standen sie wieder vor dem Tor, wieder zu nachtschlafender Zeit, und wollten wissen, was er gemeint habe. George stand auf der einen Seite, sie auf der anderen, durch Gitterstäbe getrennt. So vieles brauchte gar nicht erst gesagt zu werden: wer sie waren, was sie machten, nicht einmal das Wo, Wann und Wie: eigentlich nichts, bis auf das Warum – diese unglaublich persönlichen Geschichten, die sich nicht verallgemeinern ließen.
    George sagte durch die Gitterstäbe: »Was war in Fulham?«
    »Wegkommen ist eine Sache«, sagte die mit dem Drachen, ohne auf seine Frage einzugehen. »Aber Sie haben gesagt, wir könnten uns wehren.«
    Er drehte den Schlüssel um und zog das Tor auf.
    George machte wieder Kakao für Anji, Lisa und Beverly.
    »Ich glaube euch«, sagte er.
    »Was?«, fragte Anji. Sie sprach mit für die anderen; sie war die älteste, mit siebzehn schon eine Art Anführerin.
    George sah in ihren Augen das Misstrauen und die hartnäckige

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