Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
nicht anders hätte kommen können. Und Gnade und Vergeltung? Das war noch schwieriger.
George folgte der gepflasterten Gasse zwischen Lagerhäusern und Ladekränen. Er duckte sich unter dem Maschendrahtzaun durch auf einen Flickenteppich aus Bauschutt. Ein schneidender Wind wehte von der Themse, zerrte an seinen Haaren und stach ihm in die Nase. Er stand am Lawtons Kai, wo sein langer Marsch endete. Er war heimatlos gewesen, ohne zu wissen, wohin er ging, aber jetzt war er angekommen – an dem Ort, an den er häufiger gegangen war als an jeden anderen. In der Kaimauer entdeckte er eine eingelassene Leiter. Er zog die leuchtenden neuen Turnschuhe aus, die er auf der Old Paradise Street geschenkt bekommen hatte, und stellte sie beiseite. Langsam ließ er sich in den Fluss hinunter. Seine Kleider wurden schwer, die Kälte umklammerte seine Beine und seinen Bauch. Ein schmerzlicher Gedanke ging ihm durch den Kopf: Für Emily war er schon tot.
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ANSELM NAHM DIE Bilanzen und Rechnungsbelege, die jemand Inspector Cartwright geschickte hatte, mit ins Bett. Da er selbst mit Brille mit keiner der Zahlenkolonnen etwas anfangen konnte (als Anwalt hatte er sich tunlichst von Fällen ferngehalten, die mit Zahlen zu tun hatten), legte er die Unterlagen auf den Boden und widmete sich Vielversprechenderem: einer Fülle hartnäckiger Probleme. Nach alter Anwaltsgewohnheit teilte er sie in zwei Gruppen ein.
Erstens: Wieso hatte Elizabeth ihn zu Mrs. Dixon geschickt, ohne dass er auch nur die geringste Ahnung hatte, was sie ihm sagen könnte? Welchen Sinn hatte es, ihn machtlos und sie mächtig zu lassen – in dem Sinne, dass sie sich weigern konnte zu reden, was denn auch eingetreten war? Wieso war sie ein weiteres Risiko eingegangen, das ihre Erfolgsaussichten nur schmälern konnte – denn ebenso, wie George Bradshaw (vorhersehbar) verschwunden war, hatte Mrs. Dixon sich (durchaus nicht überraschend) geweigert, über ihren vermissten Sohn zu sprechen. Die einzige Antwort, die Anselm einfiel, war: Im Kern stand hinter Elizabeth’ Anspruch, die Vergangenheit wiedergutzumachen, ein tiefer Respekt vor der freien Entscheidung der anderen Beteiligten. Es sollte keine Beeinflussung, keinen Zwang geben.
Die nächste Gruppe von Problemen war für Anselm die spannendste. In welchem Zusammenhang stand diese zweite Mission mit der ersten? Welche Verbindung gab es zwischen diesem vermissten Jungen und dem Bemühen, Riley wieder vor Gericht zu bringen? Als Anselm Mrs. Dixon zugehört hatte, war ihm aufgefallen, dass ihre Sprache gegen das Leben im Süden Englands resistent geblieben war; ihre Aussprache mancher Wörter hatte immer noch einen nordenglischen Klang. Wer war der vermisste Junge? Er war ein guter Junge, ein guter Sohn gewesen. Als Anselm noch einmal über diese Fülle von Problemen im Ganzen nachdachte, kam er zu einer logischen, wenn auch unangenehmen Schlussfolgerung: Die Angelegenheiten, mit denen Elizabeth ihn betraut hatte, waren beide auf dem besten Weg, auf ganzer Linie zu scheitern.
Einen Erfolg konnte Anselm an diesem Abend jedoch verbuchen, wenn auch aus einer völlig anderen Richtung. Er hatte natürlich angefangen, sich für Elizabeth’ Vergangenheit zu interessieren, obwohl sie nur von ihm erwartet hatte, in ihrem Namen nach vorn zu blicken. Und die anfänglichen Ergebnisse waren interessant.
Nach seinem Besuch bei Mrs. Dixon schaute Anselm noch einmal am Trespass Place vorbei in der Hoffnung, dass George Bradshaw in sein Revier zurückgekommen war, aber alles war still und leer; enttäuscht ging er also wieder nach Hoxton, wo er einen Stapel gefaxter Unterlagen vom Gray’s Inn vorfand. Er blätterte sie durch, während sein Kartoffel-Hackfleisch-Auflauf sich in der Mikrowelle drehte. Die Bibliothekarin hatte in umgekehrter chronologischer Folge diverse Notizen über Elizabeth’ Anwaltstätigkeit zusammengestellt. Erst als Anselm das letzte Blatt erreichte, stolperte er über den entscheidenden Fehler, den er gemacht hatte. Es war klar, warum keine Elizabeth Glendinning an der Durham University studiert hatte. Noch einmal las er die Namensliste. Es war eine Zusammenstellung der Anwälte, denen die Anwaltskammer Gray’s Inn am 15. Oktober 1950 die Zulassung erteilt hatte. Die Bibliothekarin hatte die relevante Eintragung unterstrichen: Elizabeth Steadman.
Glendinning hieß sie erst seit ihrer Heirat. Anselm hatte sie nie unter einem anderen Namen gekannt. Die meisten Anwältinnen behielten nach der
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