Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Verletzlichkeit. »Ich verstehe es nicht nur«, sagte er gewichtig – denn er kannte diesen Blick, so hatte auch er sich mal gefühlt –, »ich tue auch etwas dagegen.«
Ohne weitere Aufforderung fingen sie an, von Riley zu erzählen, und wetteiferten miteinander um das Recht, sein Auftreten und seine Gewohnheiten in allen Einzelheiten zu schildern. George hörte mit glasigen Augen zu. Als Junge war dieser Mann für ihn wie ein Bruder gewesen. In den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte er sich oft gefragt, ob Riley zu denen gehörte, für die eine helfende Hand zu spät gekommen war, oder ob er sich von ihr abgewandt hatte. Sicher waren diese lebhaften Erinnerungen schuld, dass George so schwer von Begriff war. Als die drei Mädchen George erschöpft und erwartungsvoll anstarrten, sagte er: »Morgen rufe ich die Polizei an.«
»Polizei?«, fragte Beverly mit weit offenem Mund wie ihr Drache.
»Ja.«
»Wir?«
»Ja.«
Schlagartig begriff George, wieso sie wiedergekommen waren. »Moment mal«, sagte er fassungslos, »ihr habt doch wohl nicht gedacht, ich hätte euch angeboten, ihm eins überzubraten?«
Die drei Verschwörerinnen schauten sich verstohlen an. Ohne Maske wirkten sie noch jünger und unbeholfener. Lisa stand auf und zog ihre Bomberjacke an. »Wir sollen uns wehren, indem wir ein Beschwerdeformular ausfüllen?«
»Nein. Indem ihr Riley vor Gericht bringt.«
»Das sagt sich so leicht. Wir müssten dafür bezahlen, und Sie kostet es nichts.«
Anji folgte Lisa zur Tür, während Beverly sich noch auf ihrem Stuhl lümmelte und George unverwandt in die Augen schaute. »Sie würden uns in Stücke reißen.«
Genau genommen war dies der Moment, in dem George den Verstand verlor, als zwei junge Mädchen an der Tür standen und ein drittes kurz davor war, zu gehen. »Ja. Aber mit mir können sie das nicht machen.«
»Was hat das denn mit Ihnen zu tun?«
Auf diese Frage hatte George nicht vor zu antworten. »Wenn ich bestätige, was ihr sagt, wird Riley verurteilt«, drängte er. »Mir können sie nichts vorwerfen. Gar nichts.«
»Und was kostet Sie das?«
»Meinen Job, wenn es schiefgeht.«
»Und warum machen Sie es dann?«
Wieder wich er der Frage aus. »Es kann nicht schiefgehen.«
Als George am nächsten Tag aufwachte, war er heilfroh, dass Beverly mit ihren Freundinnen zur Tür hinausgegangen war. Aber eine Woche später – wieder gegen drei Uhr früh – riss die Klingel George aus tiefstem Schlaf. Er hatte einen schlimmen Abend mit einer Schlägerei wegen Vordrängelns in der Schlange hinter sich. Wütend stolperte er mit so schweren Augen ans Tor, dass er kaum sehen konnte. Er hörte Anjis Stimme: »Wir riskieren es, wenn Sie mitmachen.«
Benommen lehnte George den Kopf an die Gitterstäbe. Die Klugheit dieser Mädchen, dachte er. Sie trauen nur jemandem, dessen Einsatz dem ihren entspricht. Zum letzten Mal schwang das Tor auf, und George machte Kakao und Toast.
»Wenn ich es mache«, sagte er vorsichtig, »geht ihr dann nach Fulham?« Sie versprachen es mit Handschlag, während Georges Blick auf einem Tigerkopf ruhte, der hinter Beverlys anderem Ohr fauchte. Das letzte Mal war er noch nicht da gewesen.
Komischerweise waren es der Tiger und der Drache, die am Tag des Prozesses die Flucht ergriffen, Anji und Lisa hielten ihren Teil der Abmachung ein. Und dann wurde George aufgerufen. Hätte er auch nur geahnt, was ihn im Gerichtssaal erwartete, er hätte es wie Beverly gemacht und wäre gleich hinausgerannt. Auf dem Korridor packte Jennifer Cartwright ihn am Arm. »Wo zum Teufel gehen Sie hin?«
»Nach Hause.«
»Wohin?«
»Zurück nach Hause.«
»Wieso?«
Er gab keine Antwort.
»Zwei Mädchen haben sich gerade die Köpfe eintreten lassen.« Sie kochte vor Wut. »Sie dürfen nicht nach Hause gehen.«
George fuhr mit dem Bus nach Mitcham und wusste genau, dass Anji, Lisa und Beverly nicht in das Haus nach Fulham gehen würden. Es war seine Schuld. Langfristig betrachtet, hatte diese Polizistin Recht behalten.
Wesentlich später schrieb George in sein Notizheft: »Wer hätte gedacht, dass eine Frage nach meinem Opa Riley die Freiheit bringen würde?« Erst da wurde George klar, dass sein Niedergang nicht in jener Nacht am Tor des Nachtasyls begonnen hatte, als er ein erwachsener Mann war, sondern mit einem Geheimnis, das er als Junge entdeckt hatte.
Als George nun an der Themse entlangging, fragte er sich, wo Lob und Tadel lagen. Das war eine schwierige Frage, weil es gar
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