Patterson James
wie Steine zu Boden.
»Diesen kleinen Stunt nenne ich ›die Kugel‹!«, sagte sie und
drehte sich zu Mickey um. »Ist das nicht der Oberhammer? Der
absolute Wahnsinn?«
Sie spürte, wie sich sein Griff lockerte, wie seine Hände und
Beine an ihr entlangglitten. »Heeeeeey!«, rief er erschrocken.
»Hör auf damit! Um Himmels willen, Max! Mach langsamer!
Ich falle noch runter!«
Max antwortete nicht. Schließlich rief sie: »Pass auf! Jetzt
kommt der Rollercoaster! Das ist extrem! Bon voyage, du
kleiner Mistkerl!« Sie führte ein scharfes Wendemanöver aus,
einen vertikalen Immelmann, und Mickey Bosco verlor vollends
den Halt.
Er kreischte, als er an ihrem Leib entlangschlitterte und
schließlich stürzte – wenigstens fünfzehn Meter tief, mitten in
das schlammig braune Wasser. Er landete mit einem äußerst
befriedigenden Platschen, genau wie Max es einige Abende
zuvor in dem Film Schwer verliebt mit Gwyneth Paltrow
gesehen hatte, einer ihrer absoluten Lieblingsschauspielerinnen.
Max beobachtete, wie Bosco versank und prustend wieder an
die Oberfläche kam. Sie kreiste einmal ohne Eile, bis sie sich
überzeugt hatte, dass der Dummkopf nicht ertrinken würde. Als
er schließlich anfing, durch Wasserpflanzen und Dreck zum
Ufer zu kraulen, blies Max ihm einen Handkuss zu. Er zeigte ihr
den Mittelfinger.
»Auf die erste Liebe!«, rief Max.
Ihre Gefühle waren durcheinander, und sie musste über ein
paar Dinge nachdenken. Nördlich vom Teich lag ein kleines
Dickicht aus immergrünen Nadelhölzern. Max suchte sich die
größte Drehkiefer aus, ließ sich in die Krone fallen und hockte
sich auf einen stabil wirkenden Ast.
Sie lehnte die Stirn gegen die raue Borke des Stamms. In ihren
Augen standen Tränen, und sie hasste dieses Gefühl. Sie hasste
es, schwach zu sein. Wieso hatte sie zugelassen, dass ein Kerl
wie Mickey Bosco sie verletzen konnte? Niemals wieder, schwor sie sich. Jedenfalls nicht in diesem Leben.
Dann hielt sie inne und lauschte auf die Geräusche rings um
sich: das konstante Knarren von Zweigen und Ästen, das
Rascheln von Blättern, das Geräusch von Insekten, die ihre
Flügel aneinander rieben. Ihr Herzschlag verlangsamte sich auf
die normale Geschwindigkeit. Sechzig Schläge pro Minute. Ihr
Atem kam auch endlich wieder zur Ruhe.
Sie fing an nachzudenken, und bald hatte sie eine klare
Vorstellung von ihren Problemen.
Sie wollte akzeptiert werden hier in Pine Bush, Colorado, doch
sie hatte keine Chance.
Sie wollte imstande sein, den Menschen zu vertrauen, doch
das ging einfach nicht.
Nicht einmal annähernd! Sie musste dies akzeptieren und
lernen, damit zu leben.
Die Einzigen, auf die sie zählen konnte, waren die anderen
Vogelkinder. Und Frannie und Kit. Sieben Menschen auf der
ganzen Welt, und sie durfte nicht einmal mit ihnen über das
Geheimnis sprechen, das ihr am meisten von allen Angst
machte. Sie war gewarnt worden. Sie musste schweigen.
Wenn du redest, bist du tot.
Nein, sie konnte mit niemandem über die grauenvollen Dinge
sprechen, die an einem Ort geschahen, den sie das »Hospital«
nannten.
Sie würde niemals darüber reden.
Nicht ein einziges Wort.
Außerdem – wer sollte ihr glauben?
Es wurde allmählich dunkel, und im Westen und Süden sah es
wirklich übel aus. Schwarze Regenwolken zogen auf, als Max
sich endlich in die Luft schwang und zum Ranchhaus der
Marshalls an der Ames Road in Pine Bush zurückflog. Sie war
noch einen ganzen Block weit entfernt, als sie einen alten
schwarzen Honda in der Auffahrt bemerkte. Eine große, dünne
Frau war ausgestiegen und redete mit ihrer Mutter.
Was hat das nun schon wieder zu bedeuten?
Sie erkannte die Besucherin im ersten Augenblick nicht.
Dann machte es Klick!
Denver!
Max erinnerte sich an das Gesicht, sogar an den Namen der
Frau, die bei der Vormundschaftsverhandlung dabei gewesen
war. Linda Schein. Eine Reporterin von der Denver Post.
Warum ist sie hergekommen? Was will sie in Pine Bush?
Lieber Gott, warum können sie uns nicht einfach in Ruhe
lassen?
Ich habe keine Lust mehr auf diese Freak-Storys! Ich habe
absolut keine Lust mehr! Vergessen Sie das besser, gute Frau!
Max stellte die Flügel auf, was den gleichen Effekt hatte, als
würde sie bremsen. Sie landete auf dem Rasen vor dem Haus
und sah, wie die Reporterin die Augen aufriss. Wahrscheinlich
ärgerte sie sich grün und schwarz, dass sie keinen Fotografen
mitgebracht hatte.
Dann lächelte Linda Schein ihr bestes
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