Patterson James
habt. Wisst ihr, menschliche Kinder sind nicht die
Einzigen, die versuchen, sich gegenseitig wehzutun. In
Vogelnestern versuchen die ältesten Küken oft, die
schwächeren, jüngeren Geschwister nach draußen zu stoßen,
damit sie mehr Futter für sich bekommen. Diese Dinge
geschehen.«
»Ja, vermutlich hast du Recht«, räumte Max ein, doch sie
klang nicht überzeugt. Ich musste immer wieder daran denken,
dass sie einen IQ von mehr als hundertachtzig besaß. Und
außerdem ein fotografisches Gedächtnis.
»Ist ja auch egal. Lass uns von schöneren Dingen reden«,
versuchte sie das Thema zu wechseln, vielleicht ein wenig zu
schnell. Sie erzählte mir von einem netten, einfühlsamen Jungen
namens Mickey, den sie in der Schule kennen gelernt hatte und
den sie mochte. »Er scheint mich ebenfalls zu mögen, mit
Flügeln und allem«, fügte sie hinzu. Dann erkundigte sie sich,
wie mein neues und verbessertes Patient Inn lief. Ich erzählte ihr
von dem Kondor, den ich am Abend operiert hatte.
»Wow!«, rief Max. »Den würde ich mir zu gerne einmal
ansehen!« Ein wenig ihrer alten Energie kehrte zurück. »Ich
vermisse dich, Frannie. Wir alle vermissen dich! Matthew
schickt dir ganz liebe Grüße und Küsse. Genau wie
Ozymandias. Und Icarus.«
»Ich vermisse euch alle ebenfalls, Kleines«, sagte ich sanft.
Ich achtete darauf, ihr nichts von meiner eigenen starken
Sehnsucht zu erzählen, um es ihr nicht noch schwerer zu
machen. Ich erwartete, dass Max seufzend zustimmte, wie sie es
immer tat, doch diesmal reagierte sie anders. Ihre Stimme klang
ganz plötzlich erstickt. »Ich muss jetzt auflegen.«
»Max? Was ist los? Was geht da vor bei euch? Du hast noch
etwas anderes auf dem Herzen, habe ich Recht? Rede mit mir!«
»Ich kann nicht darüber reden, Frannie. Ich darf nicht«,
antwortete sie. »Aber es tut so verdammt weh, mit niemandem
reden zu können. Es ist ganz schrecklich. Tut mir Leid, bitte
entschuldige, ich muss jetzt auflegen.«
»Wovon redest du da, Max? Du überschlägst dich ja fast.
Mach langsam, Liebes.«
Totenstille an ihrem Ende der Leitung. Ich fragte erneut. Ich
bettelte förmlich. Lockte, versuchte zu beruhigen. »Komm
schon, Max. Du hast Angst. Ich kann es an deiner Stimme
hören.«
»Ich darf nicht mit dir darüber sprechen«, entgegnete sie. »Es
ist gefährlich, und es ist hoffnungslos. Frannie, es ist noch viel
schlimmer, als die Schule damals war. Die Leute sind
schlimmer, und was sie tun, ist schlimmer. Ehrlich. Manchmal
glaube ich, dass sie mich und Matthew beobachten. Ich bin ganz
sicher, dass sie uns beobachten. Ich hab sie zweimal gesehen.
Ich muss jetzt aufhören. Ich hab dich lieb!«
Und mit diesen Worten legte Max auf.
Max bemühte sich angestrengt, nicht an die vor ihr liegenden
Probleme zu denken und an die Unbekannten, die sie und
Matthew heimlich beobachteten. Auch wenn sie diese Leute
wieder bemerkt hatte – zum dritten Mal nun schon. Sie
konzentrierte sich stattdessen auf andere Dinge – das
Kleinstadtleben beispielsweise.
So schlau und klug sie in mancherlei Hinsicht auch sein
mochte, wenige Tage später fand sie sich in einer komplizierten
Situation wieder. Sie hatte eine »Verabredung«, und zwar mit
einem der wirklich »Süßen« aus ihrer Schule, einem großen,
blonden, athletischen Burschen namens Mickey Bosco. Sie hatte
sich von Typen wie Mickey stets fern gehalten – bis er sie um
eine Verabredung gebeten hatte.
Sie redeten nicht viel miteinander, Max und der blonde Athlet,
während sie den steilen, felsigen Hügel hinaufkletterten, der sich
an der Westseite der Schoolhouse Road hinzog. Doch während
sie sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp bahnte, kam ihr
der Verdacht, dass diese Verabredung eine schlechte Idee
gewesen sein könnte.
Sie wollte Mickey zeigen, wie es war, zu fliegen. Sie hatte es
ihm versprochen.
»Wir müssen dort auf den Felsvorsprung«, erklärte sie und
deutete in die Richtung. Sie klang zuversichtlich, doch in ihrem
Kopf war eine warnende Stimme, die nicht verstummen wollte.
Die Stimme sagte wieder und wieder: »Das ist total dumm,
Max. Das schlaueste Mädchen in der Klasse, aber das dümmste
draußen auf der Straße.«
»Du bist so still, Max«, bemerkte Mickey, während er über
einen Felsen kletterte. »Bist du immer so?«
»Ich versuche nur, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und
mir das Genick zu brechen. Vielleicht solltest du dich auch
darauf konzentrieren.«
»Ja, sicher«, antwortete
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