Patterson James
verletzten Vögeln
gearbeitet und meine eigene chirurgische Verfahrensweise
entwickelt, und ohne mich unnötig loben zu wollen – sie
funktionierte meistens ganz ausgezeichnet.
Ich streckte die Flügelknochen, dann schob ich dem Tier einen
kleinen, endotrachealen Schlauch in den Bruch. Man benötigt
unglaubliche Konzentration und eine absolut ruhige Hand, um
dies zu bewerkstelligen. Ich hielt den Atem an, während ich den
Schlauch tiefer und tiefer durch den gebrochenen Knochen
schob, bis er am anderen Ende auf Widerstand stieß. Geschafft.
Ich atmete endlich wieder durch.
Ein Vogelflügel besitzt nicht viel weiches Gewebe. Ich schnitt
das entzündete Fleisch weg, spülte die Wunde mit einer
antiseptischen Lösung aus, so gut es ging, und verschloss zu
guter Letzt die Wunde mit einer Reihe von einfachen
Kreuzstichen.
Ich richtete mich auf und betrachtete zufrieden meine Arbeit.
Saubere Chirurgie.
Bravo, dottoressa!
Ich legte den Flügel des Kondors zusammen und stabilisierte
die Bruchstelle, indem ich den gesamten Flügel mit einem
Achterverband am Rumpf des Tiers sicherte. Falls der Vogel
versuchte, den Flügel zu spreizen, würde sich der Verband nur
noch fester um ihn legen, wie bei einer chinesischen Fingerfalle.
Als ich damit fertig war, trug ich das sicherlich dreizehn oder
vierzehn Kilo schwere Tier in ein Nachbarzimmer, das meine
Teilzeitassistentin Janna und ich als Vorratsraum für
Arzneimittel, Verbandsstoffe und sonstige
Verbrauchsmaterialien benutzten. Hier gab es keine Hunde,
doch in einer Ecke stand ein großer Käfig. Eine perfekte
Herberge für diesen mächtigen Burschen, der ohne Zweifel in
Gefangenschaft aufgewachsen war.
Vorsichtig legte ich den Kondor hinein, deckte den Käfig mit
einem Tuch ab und schaltete das Licht aus.
»Gute Nacht, mein Großer«, sagte ich zu ihm. »Schlaf gut, du
Prinz von Colorado.«
Anschließend kehrte ich in den OP-Raum zurück, um dort
aufzuräumen.
Während der zwei Stunden, die ich an dem Kondor operiert
hatte, war in mir ein Gefühl aufgestiegen, das ich nicht genau
identifizieren konnte. Nun, da die Arbeit getan war,
übermannten mich die Erschöpfung und eine tiefe Traurigkeit.
Es waren die Kinder. Die Operation des Kondors hatte mich
daran erinnert, wie sehr ich jedes einzelne der sechs vermisste.
Ich stellte mir ihre Gesichter vor.
Zählte in Gedanken ihre Finger und Zehen.
Ich warf das Tunfischsandwich in den Mülleimer und den
blutigen Schlafsack gleich hinterher. Dann wusch ich den Tisch
aus rostfreiem Stahl blank, säuberte das Spülbecken, wischte
den Boden und ging zu Bett.
»Frannie! Wenn du da bist, geh ran!«, sagte eine drängende
Stimme. »Los, mach schon. Mach schon, Frannie!«
Ich war eingeschlafen, doch plötzlich war ich hellwach. Ich
streckte die Hand aus und stieß – wenigstens schon zum vierten
Mal in diesem Monat – einen Aschenbecher des alten Hotel
Boulderado von 1909 vom Nachttisch. Irgendjemand wollte mir
anscheinend sagen, dass ich mit dem Rauchen aufhören sollte. Max?, dachte ich verschlafen.
»Max! Oh, Max!«, sagte ich und riss den Hörer von der Gabel.
Es war Max’ Stimme auf dem Anrufbeantworter. »Ich habe
gerade an dich gedacht! Das muss Telepathie gewesen sein. Das
ist großartig, Kleines! Wie geht es dir? Und Matt?«
»Ganz gut so weit, schätze ich«, kam es aus dem Hörer, doch
der merkwürdige Klang dieses »schätze ich« durchbohrte mein
Herz.
»Was ist los, Kleines? Rede mit mir! Es ist mir egal, wie spät
es ist! Was ist passiert?«
»Oh, nichts«, sagte sie mit falscher Stimme. Max konnte
manchmal wie eine richtige Zwölfjährige sein.
»Nun, ich schätze, du hast heute Nacht keine Lust, über dich
zu reden, wie? Was macht Matthew?«
»Ach, Frannie. Es ist so verdammt schwer für ihn, anders zu
sein als andere Kinder.«
»Erzähl mir mehr.«
Es gelang mir, in meinen alten Flanellbademantel zu
schlüpfen, ohne das Telefon aus der Wand zu reißen, während
Max mir von den hasserfüllten Anschlägen in Pine Brush,
Colorado, erzählte. Jeden Tag gab es wenigstens einen
Zwischenfall in der Schule.
»Gemeine Beschimpfungen und Schlimmeres«, berichtete
Max.
Ich bemühte mich, die richtigen Worte zu finden, auch wenn
die anklagende Stimme von Catherine Fitzgibbons in meinem
Kopf widerhallte: Sie waren nie Mutter, nicht wahr,
Dr. O’Neill?
»Kinder können manchmal sehr grausam sein, Max«,
versuchte ich sie zu trösten. »Ich bin sicher, dass ihr alles richtig
gemacht
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