Patterson James
die
Nacht. Max lauschte, dann antwortete sie auf die gleiche Weise.
Erneut Stille.
»Oz? Spiel keine Spielchen. Nicht heute Nacht. Ich habe
Angst. Ich brauche dich.«
»Max, ich bin im Falkenhaus. Komm hoch zu mir, du alberne
Gans.«
Es war ein lauschiges, warmes, und – am wichtigsten von allem
– sicheres Plätzchen hoch oben im Dachgebälk des
Falkenhauses.
Buttergelbes Mondlicht fiel durch die Ritzen im Schindeldach
und malte Streifen auf die Gesichter von Max und Oz, die mit
baumelnden Beinen auf dem Querbalken saßen und sich
gegenseitig die Herzen ausschütteten.
»Es tut so gut, dich zu sehen«, flüsterte Max, und sie spürte
einen Kloß im Hals.
»Danke gleichfalls, aber um drei Uhr morgens? Was ist denn
passiert? Ich hoffe, du hast einen triftigen Grund – aber wie ich
dich kenne, hast du den.«
»Dazu kommen wir noch. Vielleicht. Ich sehe, dass deine
Freunde auch spät in der Nacht auf sind. Die Falken, meine
ich.«
Die beiden Rotschwänzigen Falken, die in der Scheune
wohnten, kauerten ganz in der Nähe. Das Männchen, das nahezu
blind war, putzte sein Gefieder, und seine Partnerin, die nur
noch einen Flügel besaß, drängte sich dicht an ihn. Die Falken
störten sich nicht an der Gegenwart der beiden Vogelkinder, und
Max empfand ihre Geräusche und den Geruch als angenehm und
beruhigend.
» Cheeeee! « , machte Oz.
» Cheeeee! « , antwortete das Männchen.
Max musste unwillkürlich lächeln. Oz konnte manchmal so
süß und sanftmütig sein. Sogar die meiste Zeit über, wenn sie es
genau bedachte.
Er hatte sich sehr verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen
hatte. Damals, in der Schule, war er ein kleiner Junge gewesen.
Heute jedoch war er größer als Max, obwohl er einige Monate
jünger war als sie. Und stärker. Das jungenhafte Glitzern in den
Augen war verschwunden, genau wie die Weichheit seiner
Wangen und Kiefer. Meine Güte, dachte Max, Oz hat sich zu
einem richtigen Kraftprotz entwickelt! Und sie kannte sich mit
dieser Sorte Jungen aus, oder?
»Kann ich dein Tattoo sehen?«, fragte sie.
»Sicher. Aber du musst mir erzählen, was dich so in Angst und
Schrecken versetzt hat in Pine Bush. Du hast doch sonst nie
Angst, Max.«
»Mache ich«, versprach sie. »Aber lass mich zuerst dein
Tattoo sehen.«
Oz zog sein schwarzes Sweatshirt hoch, so dass Max den
braunen, roten und gelben Weißkopfseeadler bewundern konnte,
der sich mit voll ausgebreiteten Schwingen über seine Brust
spannte. Der Adler hielt in einer Klaue einen Schild und in der
anderen gezackte Pfeile. Darunter war das Motto eintätowiert: Live Free or Die. Es war wunderschön.
»Das ist so verdammt cool«, staunte Max. »Es muss ziemlich
wehgetan haben.«
Oz zuckte die Schultern und grinste. »Das hier hat wehgetan.«
Er öffnete die Handfläche und zeigte Max ein weiteres Tattoo.
Es war amateurhaft gemacht, offensichtlich von Oz selbst.
Max beugte sich vor und las laut. »›Ozymandias, King of
Kings‹. Ein wenig von dir selbst eingenommen, wie?«, fragte
sie.
»Ich meine es so wie dieser Dichter, Shelley«, antwortete Oz.
»Eitelkeit ist nichts wert. Selbst der mächtige Ozymandias, der
alte Ägypterkönig Ramses, starb und wurde zu Staub. Hast du
dich eigentlich je gefragt, warum man mir ausgerechnet diesen
Namen gegeben hat?«
»Wie sollen wir begreifen, was diese Mistkerle in der ›Schule‹
gemacht haben?«, entgegnete Max. »Diese Irren!«
»Ich hasse sie immer noch aus vollem Herzen. Ich kann
einfach nicht damit aufhören«, fauchte Oz. »Ich frage mich
ständig, wie unser Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie nicht an
uns herumgepfuscht hätten. Manchmal glaube ich, wir haben
mehr mit diesen Falken gemeinsam als mit den Menschen.«
»Du liest meine Gedanken«, sagte Max. »Das ist unheimlich.
Brrr.«
»Was ist denn nun im hübschen Pine Bush passiert? Warum
wolltest du mich unbedingt sehen?«
Max gingen eine Million beängstigender Gedanken durch den
Kopf, bevor sie antwortete. Es würde nicht ganz einfach werden.
»Ich hab einen Jungen mit auf einen Flug genommen«, begann
sie schließlich. »Ich weiß, es war dumm von mir. Der Bastard
hat mich begrabscht. Er hat mich befummelt, und dann hat er
mich ausgelacht, weil ich keine Brüste habe. Als wüsste ich das
nicht selbst. Als wenn ich etwas darum gäbe. Aber
offensichtlich tue ich das, sonst hätte es mich nicht so
getroffen.«
Oz schüttelte den Kopf und dachte ein paar Sekunden nach,
bevor er antwortete. Sehr erwachsen
Weitere Kostenlose Bücher