Patterson James
Jack Russell konnte sein Glück kaum fassen.
Wir marschierten über einen Waldweg, der am oberen Rand
einer Schlucht entlang verlief. Glücklicherweise herrschte fast
Vollmond, und wir hatten mehr als genug Licht.
Pip rannte schnüffelnd und schnaubend hoch und runter, und
ich hörte, wie verschiedene vierbeinige Kreaturen beim
Geräusch meiner Schritte auf dem weichen Boden hastig tiefer
in den Wald flüchteten.
Dann hörte ich ein Rascheln in den Bäumen über mir.
Sofort musste ich an einen Rotluchs denken. Ich erstarrte beim
Gedanken an eine vierzig Kilo schwere Raubkatze irgendwo in
den dünnen Ästen direkt über meinem Kopf. Das war überhaupt
nicht gut. Das war im Gegenteil sehr, sehr schlecht.
Weiteres Rascheln. Meine Knie wurden ein wenig weich.
Dann ertönte eine mir vertraute Stimme.
»Hey, Frannie! Wie ist denn das Leben so da unten auf der
Erde?«
Zuerst sprang Max aus den dichten, überhängenden Ästen.
Dann kam Matthew zum Vorschein, gefolgt von Icarus, Oz und
den Zwillingen. Alle stürzten sich gleichzeitig auf mich und
drängten sich um mich. »Mama, Mama!«, weinte die kleine
Wendy immer wieder. »Mama, du bist es!« Mein Herz drohte zu
schmelzen. Ich konnte nicht anders, die Tränen schossen mir in
die Augen, und ich wollte sie auch gar nicht stoppen.
Endlich lösten wir uns voneinander, und dann rannten,
sprangen und liefen wir zu meiner Hütte. Wir feierten mit heißer
Schokolade und Plätzchen und mit Ananasstücken für Wendy
und Peter. Es gelang mir nicht einen Moment lang, die Augen
von den kleinen gefiederten Wunderkindern abzuwenden.
Ich war unendlich erleichtert, sie alle in meiner Küche zu
haben, am Leben und unverletzt. In Gedanken zählte ich immer
wieder ihre Zehen und Finger. Ich küsste ihre süßen, süßen
Gesichter wieder und wieder. Und ich fragte mich unablässig:
Was mache ich jetzt nur?
Nach dem Dessert war Max immer noch hungrig. »Ich habe
eine verdammt lange Nacht hinter mir«, sagte sie lachend. »Ich
könnte ein ganzes Nilpferd essen. Aber Pasta Marinara tut es
auch.«
Max kannte sich in meiner Küche aus und beharrte darauf,
selbst zu kochen. Sie nahm einen großen Topf vom Steckbrett
über dem Herd, füllte ihn mit Wasser und stellte ihn auf die
Flamme. Oz fand in der Speisekammer ein Glas mit roter Soße.
Matthew begann Petersilie zu hacken.
Sie waren wieder zu Hause. Mein Gott, wie gut es tat. Das
beste Gefühl auf der ganzen Welt.
Während Max und die Truppe Pasta zubereiteten, erzählte sie
mir, warum sie alle hatten flüchten müssen. Mit bestürzender
Nonchalance beschrieb sie die bewaffneten Men in Black, die in
das Haus der Marshalls eingebrochen waren, und benutzte sogar
eine Zeile von einem Filmposter: Gleicher Planet, neuer
Abschaum.
Ich konnte nicht darüber lachen. Ich war schockiert, entsetzt,
mir lief es eisig über den Rücken. Ich fragte Max rundheraus, ob
sie sich einen Grund vorstellen konnte, aus dem jemand Jagd auf
sie machte.
Sie zuckte die Schultern und meinte lakonisch: »Vielleicht
sind wir ja so was wie unbezahlbare Kunstwerke? Wer weiß das
schon? Belassen wir es einfach dabei, Frannie, okay?«
Gegen zwei Uhr morgens schliefen Wendy, Peter, Matthew
und Pip endlich auf meinem Bett ein. Ich deckte Max auf dem
Sofa mit einer Bettdecke zu und warf weitere Decken und
Kissen auf den Boden für den harten Burschen Oz. Icarus
versteckte sich im Wäscheschrank, wo er sich sicherer fühlte.
Ich gab allen einen Gutenachtkuss.
Nachdem sie endlich eingeschlafen waren, kehrte ich in die
Küche zurück, um gründlich über die Situation nachzudenken.
Ich hatte sechs extrem verängstigte Kinder in meinem Haus,
und sie waren auf der Flucht vor jemandem, der ihnen
wahrscheinlich etwas antun wollte oder sie möglicherweise
sogar verkaufen würde. Wer war dieser Jemand? Und warum?
Trooper McKenna hatte mich ermahnt, ihn sofort anzurufen,
doch das hatte ich bis jetzt nicht getan. Vergangene Erfahrungen
hatten mich gelehrt, den Menschen noch lange nicht zu
vertrauen, bloß weil sie eine Uniform trugen und einen Stern auf
der Brust hatten oder bei irgendeiner Regierungsbehörde
arbeiteten.
Das FBI steckte ebenfalls in der Sache, so viel schien
festzustehen.
Wenn Kit mir nicht erzählen durfte, dass die Kinder
verschwunden waren – wie viel darf ich dann meinerseits ihm
erzählen?
Bei diesem Gedanken übermannte auch mich der Schlaf.
VIERTES BUCH
YELLOW BRICK ROAD
DAS HOSPITAL
Kristin Morgan war eine Medizintechnikerin von höherem
Rang, die nur eine
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