Patterson, James - Alex Cross 02 - Denn Zum Küssen Sind Sie Da
der Rede wert. Dafür gab es zwei Gründe: ihre Sklavenarbeit auf der Krebsstation und ihre Besessenheit von Karate, die ihr einen schwarzen Gürtel zweiten Grades, einen Nidan, eingetragen hatte. Das war das einzige, was sie sich an Entspannung gestattete; die Karatestunden waren ihre Erholung.
Auf dem Namensschild, das an ihrer linken Brusttasche steckte, stand: DR. K. MCTIERNAN. Ihr gefiel die kleine Respektlosigkeit, die darin lag, daß sie dieses Status- und Prestigesymbol mit den ausgebeulten Hosen und den Turnschuhen trug. Sie wollte nicht wie ein Rebell wirken, und im Grunde war sie auch nicht rebellisch, aber innerhalb der großen Krankenhausgemeinde brauchte sie etwas Individuelles.
Kate hatte sich vor kurzem eine Taschenbuchausgabe von Cormac McCarthys All die schönen Pferde besorgt. Von Assistenzärzten im ersten Jahr wurde nicht angenommen, sie hätten Zeit, Romane zu lesen, aber Kate nahm sich die Zeit. Jedenfalls hatte sie sich versprochen, sich heute abend Zeit zu nehmen. Der Abend Ende April war so schön, in jeder Hinsicht so vollkommen, daß Kate daran dachte, bei Spanky an der Kreuzung Columbia Street/Franklin Street Station zu machen. Sie hätte sich an die Bar setzen und in ihrem Buch lesen können. Es war völlig ausgeschlossen, daß sie an einem »Studienabend«, und das waren fast alle Abende für sie, neue Bekanntschaften machte. Samstags hatte sie meistens frei, aber dann war sie zu erschöpft für all die Rituale vor und nach der Paarung. So war es, seit sie und Peter McGrath die vielen Schwankungen unterworfene Beziehung endgültig gelöst hatten. Peter war achtunddreißig, Doktor der Geschichte und fast ein Genie. Er war attraktiv wie die Sünde und für Kates Geschmack viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Trennung war schmutziger gewesen, als Kate erwartet hatte. Sie waren jetzt nicht einmal mehr Freunde.
Jetzt waren vier Monate ohne Peter vergangen. Das war nicht gut, gehörte aber nicht zu den zehn schlimmsten Dingen, mit denen sie zurechtkommen mußte. Außerdem wußte sie, daß die Schuld an der Trennung bei ihr lag, nicht bei Peter. Der Bruch mit Liebhabern war eines ihrer Probleme; es gehörte zu ihrer geheimen Vergangenheit. Zu ihrer geheimen Gegenwart? Ihrer geheimen Zukunft?
Kate McTiernan hielt sich die Armbanduhr vor das Gesicht. Das war ein ausgeflipptes Mickymausmodell, das ihre Schwester Carole Anne ihr geschenkt hatte, eine ganggenaue kleine Uhr. Außerdem war es eine Mahnung an Kate: Bilde dir ja nichts ein, bloß weil du jetzt einen Doktortitel hast. Mist! Ihre Weitsichtigkeit wurde schlimmer – dabei wurde sie demnächst erst einundddreißig! Sie war eine alte Frau. Sie war an der medizinischen Fakultät der University of North Carolina die Oma gewesen. Es war schon halb zehn, sie gehörte längst ins Bett.
Kate beschloß, am Spanky vorbeizugehen und den Heimweg zur Hazienda einzuschlagen. Sie würde sich ein tiefgefrorenes Chili warm machen, vielleicht heißen Kakao mit Marshmallowschaum trinken. Sich mit Junk food und Cormac McCarthya ins Bett zu kuscheln und danach vielleicht zu träumen, klang eigentlich gar nicht so übel.
Wie viele Studenten in Chapel Hill – im Gegensatz zu den reicheren oben in der Tobacco Road – hatte Kate Geldprobleme. Sie wohnte in einer Dreizimmerwohnung im Obergeschoß eines Holzhauses, einem sogenannten North-Carolina-Landhaus. Alle Farbe blätterte ab, und das Haus sah aus, als schimmelte es. Es lag am Ende der Pittsboro Street in Chapel Hill. Kate hatte die Wohnung günstig mieten können.
Als erstes in der Gegend waren ihr die herrlichen Bäume aufgefallen. Es waren alte, stattliche Harthölzer, keine Kiefern. Die langen Äste erinnerten sie an die Arme und Finger geschrumpfter alter Frauen. Sie nannte ihre Straße »Altweibergasse«. Wo hätte die Oma der medizinischen Fakultät auch sonst wohnen sollen? Kate kam gegen Viertel vor zehn nach Hause. Im Untergeschoß des Hauses, das sie von einer Witwe, die in Durham wohnte, gemietet hatte, wohnte niemand.
»Ich bin wieder da. Ich bin’s, die barmherzige Kate«, rief sie der Mäusefamilie zu, die irgendwo hinter dem Kühlschrank hauste. Sie brachte es nicht über das Herz, die Mäuse auszurotten. »Habe ich euch gefehlt? Habt ihr schon was gegessen?« Sie schaltete das Deckenlicht in der Küche ein und lauschte dem aufreizenden elektrischen Summen, das sie verabscheute. Ihr Blick fiel auf die Vergrößerung eines Ausspruchs eines ihrer Medizinprofessoren:
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