Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
mich daran zu erinnern, dass ich jetzt draußen auf den Straßen sein sollte. Wie sie gesagt hatte: Jemand tötet unsere Kinder.
Ich war sicher, dass das unaussprechliche Scheusal erneut morden würde. Im Gegensatz zu Jack und Jill investierte es Wut und Leidenschaft in sein Werk. Eine Furcht einflößende, primitive Verrücktheit, die ich beinahe schmecken konnte. Dass der Mörder wahrscheinlich ein Amateur war, beruhigte mich nicht im Geringsten.
Denk wie der Mörder. Geh in den Schuhen des Mörders. Ich ermahnte mich ständig, daran zu denken. So fängt immer alles an, aber es ist viel schwieriger, als es sich anhört. Ich sammelte so viele Informationen und Daten, wie ich konnte.
Einen Teil des Nachmittags verbrachte ich damit, mehreren der hiesigen Herumtreiber aufzulauern, die vielleicht etwas über die Morde aufgeschnappt hatten: freundliche Menschen auf der Straße, schwankende Haschischkonsumenten, junge Laufburschen der Dealer, von denen einige selbst Drogenkonsumenten waren, und Ladeninhaber, Taschendiebe, muslimische Zeitungsverkäufer. Ich setzte einigen ziemlich hart zu, aber niemand konnte mir etwas sagen, was mir weiterhalf.
Ich blieb trotzdem dran. So läuft es meistens. Du musst dranbleiben, einfach stur dranbleiben und unerbittlich nachbohren. Um Viertel nach fünf redete ich mit einem siebzehnjährigen Obdachlosen, den ich von der Arbeit in der Suppenküche von St. Anthony kannte. Er hieß Loy McCoy und arbeitete als kleiner Laufbursche für einen Crackdealer. Er hatte mir in der Vergangenheit ein-, zweimal geholfen.
Loy war nicht mehr in der Suppenküche erschienen, nachdem er seinen Job bei dem Dealer angetreten hatte und nun in der Gegend Crack und Speed gegen Bares auslieferte. Es fällt mir schwer, Jugendliche wie Loy zu verurteilen, obwohl ich das manchmal gern tun würde. Ihr Leben ist unglaublich hart und hoffnungslos. Und dann läuft diesen Jungs eines Tages jemand über den Weg und bietet ihnen fünfzehn oder zwanzig Dollar die Stunde, um zu tun, was sonst ein anderer tun würde. Der Haken an der Sache ist, dass die Rauschgiftbosse an diese Kids glauben – eine Erfahrung, welche die meisten von ihnen das erste Mal machen; in vielen Fällen hat zuvor niemand an diese verlorenen Kinder geglaubt.
Ich rief Loy zu mir herüber, weg von dem Haufen Idioten, mit denen er sich auf der L Street herumtrieb. Die Typen waren in gekleidet, mit allem Drum und Dran: schwarze, maschinell gestrickte Wollmützen, die sie über die Ohren gezogen hatten, fast bis zu den Augen. Goldkronen, Kreolenohrringe, weite Hosen. Loys Gang unterhielt sich über den Fred-FeuersteinFilm; ob über die Verfilmung mit den Schauspielern oder über den Zeichentrickfilm, wusste ich nicht. Jabbadabbadu war eines der Schlagworte für Polizeistreifen und Detectives in dieser Gegend. Vor kurzem hatte ich eine traurige Statistik gelesen, wonach siebzig Prozent der Amerikaner beinahe hundert Prozent ihrer Informationen durch Fernsehen und Filme bezogen.
Loy grinste, als er langsam von der Straßenecke herüberkam und auf mich zuschlurfte. Er war knapp über einsachtzig groß, wog aber nur dreiundsechzig Kilo. Er trug weite, kunstvoll zerfetzte Winterklamotten. Heute wollte er offenbar den harten Burschen herauskehren und mich durch sein Starren dazu zwingen, die Augen zu senken, sodass er sich als der Stärkere erwies.
»He, Mann, muss ich gleich losfetzen, wenn Sie mich rufen?«, fragte Loy in einem aufmüpfigen Tonfall, den ich ärgerlich und todtraurig zugleich fand. »Was issn los? Ich zahl Steuern «, plapperte er weiter. »Ich bin sauber. Wir alle sind sauber.«
»Dein beschissen überhebliches Getue funktioniert bei mir nicht«, sagte ich. »Lass das ganz schnell bleiben.« Ich wusste, Loys Mutter war heroinsüchtig, und er hatte drei jüngere Schwestern. Alle hausten im Asyl des Greater Southeast Community Hospitals, ungefähr eine so gute Adresse wie die Tunnels unter dem Bahnhof.
»Sagen Se mir, was Se von mir wollen, damit ich mich wieder um meine Geschäfte kümmern kann«, sagte Loy, immer noch trotzig. »Zeit ist Geld, klaro? Spucken Se aus, was Se wollen.«
»Nur eine Frage, Loy. Dann kannst du dich wieder deinen großen Transaktionen widmen.«
Er spielte weiter den Helden – ein Grund dafür, dass man in dieser Gegend leicht erschossen werden kann. »Warum muss ich Ihre Fragen beantworten, he? Was issn für mich drin? Was ham Se zu bieten?«
Ich lächelte Loy an. Da musste er auch lächeln. Dabei zeigte
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