Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
setzen gewohnheitsmäßig Gewalt und Grausamkeit ein, um Macht auszuüben, und genießen es, körperlichen und seelischen Schmerz zuzufügen. Sie erzählen gern Lügen, schlicht und einfach deshalb, weil sie Schmerz verursachen möchten. Sie sind besessen davon, Gewalt anzuwenden, zu quälen und sogar andere umzubringen.
Das alles ging mir durch den Kopf, während ich hoch über dem Atlantik im Flugzeug saß. Am meisten beschäftigte mich jedoch meine Schlußfolgerung Mr. Smith betreffend, die ich vor kurzem in Quantico an Kyle Craig weitergegeben hatte. Zu verschiedenen Zeitpunkten dieser langen und vielschichtigen Ermittlung schien Mr. Smith allen vieren dieser klassischen Mördertypen zu entsprechen und perfekt in das Muster der einen oder anderen Persönlichkeitsstörung zu passen, um dann wenig später wiederum einem anderen zu entsprechen, je nach Laune. Vielleicht war er sogar ein fünfter Typ des psychopathischen Mörders, eine ganz neue Variante unter den gestörten Persönlichkeiten. Vielleicht hatte die Regenbogenpresse in Sachen Mr. Smith aber sogar recht, und er war tatsächlich ein Außerirdischer. Auf jeden Fall war er keinem anderen menschlichen Wesen vergleichbar. Ich wußte das, denn er hatte Isabella ermordet.
Das war der wahre Grund, weshalb ich auf dem Flug nach Paris nicht schlafen konnte. Weshalb ich überhaupt nicht mehr schlafen konnte.
92.
Wer würde je den kaltblütigen Mord an einem geliebten Menschen vergessen? Ich konnte es jedenfalls nicht. In vier Jahren hatte nichts die alptraumhafte Erinnerung an die Tat abgeschwächt. Die Erinnerung, die genau das widerspiegelt, was ich bei der Polizei von Cambridge ausgesagt habe:
Es ist ungefähr zwei Uhr morgens, und ich schließe mit meinem Schlüssel unsere Dreizimmerwohnung in der Inman Street in Cambridge auf. Plötzlich bleibe ich stehen, weil ich das Gefühl habe, daß etwas nicht stimmt.
Einige Details innerhalb der Wohnung werde ich nie vergessen. Ein Plakat hängt in unserem Flur: Sprache bedeutet mehr als nur sprechen . Isabella ist eine versteckte Linguistin, liebt Wörter und Wortspiele über alles. Das gilt übrigens auch für mich, und es ist eine wichtige Verbindung zwischen uns.
Isabellas Lieblingslampe, eine Noguchi aus Reispapier. Ihre geliebten Taschenbücher von zu Hause, die meisten in Folioformat, weiße, gleichmäßige Buchrücken mit schwarzer Schrift, so vollkommen und sauber.
Ich hatte mit ein paar anderen Medizinstudenten, die wie ich soeben den Abschluß gemacht hatten, bei Jillian’s ein paar Gläser Wein getrunken. Wir mußten Dampf ablassen, nachdem wir viel zu viele Tage, Nächte, Wochen und Jahre den Druck von Harvard ausgehalten hatten. Wir verglichen die Notizen, die wir uns über die Krankenhäuser gemacht hatten, in denen wir vom Herbst an arbeiten würden, und versprachen uns, in Verbindung zu bleiben, wußten aber, daß wir das Versprechen vermutlich nicht einhalten würden.
Zu dieser Gruppe gehörten drei meiner besten Freunde aus der Zeit des Medizinstudiums: Maria Jane Ruocco, die im Kinderkrankenhaus in Boston arbeiten würde; Chris Sharp, der bald zum Beth Israel aufbrechen würde, und Michael Fescoe, der eine der begehrten Assistenzarztstellen an der New Yorker Universitätsklinik bekommen hatte. Auch ich hatte Glück gehabt, ich würde ans Massachusetts General gehen, eines der besten Lehrkrankenhäuser der Welt. Meine Zukunft war gesichert.
Ich war durch den Wein in Hochstimmung, aber nicht wirklich betrunken, als ich nach Hause kam. Ich war gut gelaunt, ungewöhnlich sorgenfrei, und – ein seltsames, schuldbeladenes Detail – ich war scharf auf Isabella. Ich erinnere mich, daß ich auf der Rückfahrt in meinem Auto, einem zehn Jahre alten Volvo, der meinem finanziellen Status als Medizinstudent entsprach, »With or Without You« sang.
Ich weiß noch, daß ich, nachdem ich das Deckenlicht eingeschaltet hatte, einige Sekunden lang im Flur stand. Isabellas Handtasche lag auf dem Fußboden, und der Inhalt war in einem Radius von einem bis anderthalb Metern verstreut. Sehr seltsam. Kleingeld, ihre Lieblingsohrringe von Georg Jensen, ein Lippenstift, diverse Schminkutensilien, Puder, Zimtkaugummi – alles lag einfach auf dem Boden.
Warum hatte Isabella ihre Handtasche nicht wieder aufgehoben? Ist sie sauer auf mich, weil ich mit meinen Freunden ausgegangen war? Das hätte Isabella überhaupt nicht ähnlich gesehen. Sie ist eine aufgeschlossene Frau, denkt schon fast übertrieben
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