Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
zu müssen. Er ist mit einem Kumpel zur Siedlung gefahren und dann …«
»Und dann?« Bremer hatte einen schlechten Geschmack im Mund, der nicht vom Bier kam.
»Es gab eine Prügelei. Ein paar umgefallene Stühle. Ein zerschmetterter Garderobenspiegel. Eine gebrochene Nase. Und angeblich hat man die drei draußen im Garten an die Bäume gebunden.«
»Angeblich?«
»Unsere beiden haben das immer bestritten. Nicht die Prügelei mit dem Studenten, das galt als Ehrensache. Aber alles andere. Trotzdem blieb der Langhaarige bei seiner Geschichte, er habe sich und die Mädchen erst nach Stunden befreien können. In den frühen Morgenstunden hat er den Notarzt kommen lassen. Und der hat die Polizei verständigt.«
»Und du warst dabei.«
Kosinski nickte. »Ich habe den Tatortbericht geschrieben. Ganz besonders gründlich. Aus Übungszwecken. Die setzten mich gern bei so was ein.« Der Alte lachte ohne große Freude.
»Und dann?«
»Nichts. Wir haben die Sache für eine eher harmlose Auseinandersetzung unter Jugendlichen gehalten und beide Augen fest zugedrückt. Die Hippies haben sich in ihrem Haus verbarrikadiert und auch Erika nicht mehr reingelassen. Was ja Sinn der Übung war. Und eines Tages …«
»Eines Tages habt ihr sie erfolgreich verjagt. Und alles hatte wieder seine Ordnung.« Bremer spürte, daß sein Spott bitter klang.
»Richtig. Niemand weinte ihnen eine Träne hinterher. Und auf unserer Dienststelle hatten wir genug zu tun mit einer Serie von Brandstiftungen. Ich war mit dem Fall nicht mehr befaßt. Ich war woanders eingesetzt.«
Bremer war plötzlich unendlich froh, seine ersten Liebesabenteuer in den 70er und nicht den verklemmten 60er Jahren erlebt zu haben. Das alles lag so unvorstellbar weit zurück. Ferner als der Mond.
»Aber was wir damals nicht wußten, nicht wissen konnten – eines der beiden Mädchen wird seither vermißt.«
Also doch nicht nur eine harmlose Prügelei. Kosinski winkte nach Fanny für ein weiteres Bier. Bremer schloß sich an. Bei solchen Geschichten blieb man besser nicht nüchtern.
»Und wenn das Mädchen deinen harmlosen Dorfjungs zum Opfer gefallen ist?« Ob er die Täter kannte? Wahrscheinlich ja. Hoffentlich nicht.
Kosinski hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
»Und alle haben weggeschaut?« Der Gedanke tat viel zu weh.
Kosinski schüttelte hilflos den Kopf.
Bremer spürte das Bier und die Kälte, die heraufkroch, seit die Sonne hinter einer Wolke verschwunden war. Er kannte seine Idylle und ihre Abseiten. Sie mochten hier niemanden, der fremd war. Und das war noch heute so: Sie mochten keine wie Sophie Winter.
Und plötzlich machte er sich Sorgen um sie. Vierzig Jahre sind nicht viel Zeit, wenn man auf dem Land lebt. Wenig ändert sich wirklich. Aber manches ändert sich nie.
2
»Jo, natürlich wärst du der Richtige gewesen. Ich habe das immer gesagt. Aber die Politik des Hauses …« Karla. Beide Hände gehoben. Die ihr gebunden waren. Dank der Politik des Hauses.
DeLange kam sich idiotisch vor. Er stand mitten im Flur, zwei Becher mit Kaffee in der Hand, einen für sich, den anderen für die Chefin, und fühlte sich unwohl. So als kooptierter Frauenversteher. Ausgebootet aus historischer Notwendigkeit. Zugunsten der Wiedergutmachung jahrhundertelanger Diskriminierung.
Er hielt Karla ihren Kaffeebecher hin, den er an seiner Espressomaschine gefüllt hatte. Er machte den besten Kaffee der Abteilung, was kein Kunststück war angesichts der Plörre, die die anderen sich antaten.
Nun nimm schon, Karla.
Aber sie flatterte noch immer mit den Händen. »Andererseits ist Angelika Schau nicht die schlechteste Wahl, weißt du.«
»Kein Problem.«
Karla guckte ungläubig.
»Ich habe damit kein Problem.« Nur mit dem blöden Mobiltelefon, das tief in der Hosentasche vergraben vor sich hin vibriert. Und damit, daß ich keine Hand frei habe, weil Karla ins Große Ganze starrt. Statt mir ihren Kaffeebecher abzunehmen. »Wirklich nicht.«
Sie streckte die Hand aus. Na endlich.
»Du erlaubst?« Er fingerte das Telefon aus der Hosentasche und guckte aufs Display. Feli. Warum rief sie nicht auf dem Diensttelefon an? Warum rief sie ihn überhaupt an? Er wies das Gespräch ab. Er wollte nicht mit ihr sprechen. Nicht jetzt.
»Denkst du an die Pressekonferenz?« Karla steckte die Nase in ihren Becher und schnüffelte, als ob sie einen kostbaren Bordeaux probierte. Erst hatte er diese Marotte als Kompliment für seinen großartigen Caffè Latte gedeutet,
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