Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
die er nur halb verstand.
»Ja, ich kenne das Haus und seine Geschichte.« Plötzlich schienen die scharfen Falten in Kosinskis Gesicht, vor allem die zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln, noch tiefer zu werden. »Es ist keine gute Geschichte.«
Er trank sein Wasser in einem Zug aus, stellte das Glas geräuschvoll auf den Tisch, drehte sich um und winkte nach Fanny. »Ein Bier«, sagte er. »Ein großes.«
Und dann schwieg er, bis Fanny das Bier brachte und er den ersten Zug genommen hatte.
»Ich kenne das Haus von außen und von innen. Es hat niemandem Glück gebracht. Willst du das wirklich wissen?«
Bremer nickte.
»Von Anfang an?«
»Von Anfang an.«
Kosinski räusperte sich. »Heinrich Brauer war ein liebenswürdiger Spinner – und seine Siedlung war eine schöne Idee, aber keine gute. Als er 1930 pleite ging, waren nur zwei der acht Häuser fertig geworden, aber auch die standen leer. Wenige Monate später, im Frühjahr 1931, erhängte er sich in einem seiner Häuser. Und weißt du, in welchem?«
»Ja«, sagte Paul. »Im Haus von Sophie Winter.«
Kosinski nickte bedächtig. »Und das ist nicht das einzige Drama, was sich dort abgespielt hat. Willst du alles hören?«
Bremer hob das Glas und prostete ihm zu. »Alles«, sagte er.
»Bis 1933 war die Siedlung tot. Niemand ging auch nur in die Nähe von ›Heinrichs Verhängnis‹. Es spukte, das wußte jeder.«
Ulla Abel hatte das auch gesagt.
»Und dann kam Alfred Wirth und kaufte die beiden fertig gestellten Häuser. Entweder war er nicht abergläubisch, oder er kannte die ganzen Geschichten nicht. Ich tippe auf letzteres: Er stammte nicht von hier. Wirth war Ingenieur, er hatte gute Kontakte zur NSDAP und machte Karriere in der Rüstungsindustrie. Er plante und überwachte den Bau des Tunnels bei Ebersgrund – du weißt, daß man dort während des Krieges Steuerelemente für Hitlers Wunderwaffe herstellte?«
Die V2. Bremer nickte.
»Wirth leitete die Produktion bis Kriegsende und setzte dabei Zwangsarbeiter aus Frankreich und Polen ein. Die beschäftigte er auch beim Ausbau der anderen Häuser, die er unterdessen billig gekauft hatte. Er scheint seine Leute halbwegs fair behandelt zu haben. Vielleicht ist er deshalb 1945 nicht belangt worden.«
Fanny brachte eine neue Runde Bier. Die Rentnerinnen klapperten mit ihren Nordic-Walking-Stöcken davon. Eine Amsel begann in den Ästen eines Kirschbaums zu singen.
»Sechs der Häuser verkaufte er nach dem Krieg an eine englische Immobilienfirma, die sich aber nicht darum kümmerte. Die von ihm zuerst erworbenen behielt er. In dem einen wohnte er mit seiner Frau, das andere hatte er seinem Sohn Hans geschenkt. Hans Wirth, der Mitte der 30er Jahre eine nicht mehr ganz junge Frau namens Theresa geheiratet hatte, fiel im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. Seine Mutter wurde ein Pflegefall – aus Kummer um den Tod des Sohnes, wie es heißt –, und Theresa, die kinderlos geblieben war, zog zu ihren Schwiegereltern, um ihnen den Haushalt zu besorgen. Wirths Frau starb kurze Zeit später, Alfred Wirth erst 1953. Kannst du mir bis hierhin folgen?«
»So halbwegs«, sagte Bremer.
»Gut. Denn jetzt kommt’s.«
Kosinski zog die langen Beine ein und stützte die Unterarme auf den Tisch. »Theresa lebte noch dreizehn Jahre in dem Haus ihrer Schwiegereltern, bevor sie eines Tages verschwand, ohne Abschied von den Nachbarn, was die nicht weiter wunderte. Alle hielten die alte Dame für seltsam, um es höflich auszudrücken. Immerhin hatte sie einen Makler damit beauftragt, beide Häuser zu verkaufen. Als der Mann das Haus, das sie zuletzt bewohnt hatte, zum ersten Mal besichtigte, muß ihn der Schlag getroffen haben.«
Der Alte war auf dem zierlichen Sesselchen nach vorn gerutscht und hatte die Stimme gesenkt.
»In jedem Zimmer hatte Theresa Wirth etwas anderes gesammelt: In einem Raum stapelten sich die Zeitungen und Zeitschriften bis unter die Decke, in einem anderen leere und offenbar sorgfältig ausgewaschene Konservendosen. Und in einem weiteren hatte sie Schuhe gehortet.«
»Und das hat niemand gemerkt?«
»Offenbar nicht. Die Entrümpelung muß ziemliches Aufsehen erregt haben. Den Ruf des Hauses hat das nicht gerade gehoben; während die anderen Häuser Abnehmer fanden, wurde Theresa Wirths Haus erst 1968 vermietet. An drei junge Leute aus Frankfurt. Studenten, angeblich. Aber auf uns wirkten sie wie Exoten. Außerirdische. Verrückte.«
Fanny sah fragend herüber. Bremer nickte. Noch zwei
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