Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
zum Schreibtisch ging. Der Kalender war nicht da, wo er sein sollte. Dafür fand sie das Ladegerät fürs Mobiltelefon, das sie gestern gesucht hatte. Als sie ihren alten Filofax endlich in der Hand hielt – er lag unter der Zeitung von gestern, da liegt er gut, dachte sie –, war es bereits Viertel nach sechs.
Und da stand es, direkt neben dem Lesezeichen. Unter dem Datum vom 2. April. Lesung in einer Buchhandlung in Oberursel. Wo das lag, wußte sie ausnahmsweise. Fahrzeit etwa eine Stunde, die Veranstaltung begann um 20 Uhr, sie hatte nicht mehr viel Zeit zum Umziehen und Schminken.
Aber es dauerte nicht länger als üblich, bis sie mit sich zufrieden war. »Gesunde Haut, kräftiges Haar«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Das macht die gute genetische Grundausstattung.« Und die verdankst du mir, hieß das. Alles verdankst du mir. In diesem Glauben war Sophie aufgewachsen. Was die gute Haut betraf, so konnte sie damit leben. Es machte das unvermeidliche Altern etwas erträglicher.
Ein trockenes Knäckebrot, auf die Schnelle, in der Küche im Stehen, bevor sie ging. Nach kurzem Nachdenken ließ sie die Packung auf dem Tisch liegen, neben dem Camembert und den Tomaten. Man wußte ja nie.
Auf dem Weg zum Auto überfiel sie wieder die Furcht, etwas Wichtiges, etwas Wesentliches vergessen zu haben. Sie blieb stehen. Versuchte sich zu konzentrieren. Aber da war nichts, gar nichts, nur ein leeres Hirn, in dem sich langsam Panik ausbreitete.
Das Buch. Der Gedanke kam wie eine Erlösung. Sie hatte ihr Buch vergessen. Das Buch mit der Strichfassung, man konnte auf einer Lesung schließlich nicht das ganze Buch vorlesen, also mußte sie kürzen, raffen, beschleunigen. Ohne die Strichfassung keine Lesung.
Sophie lief zurück, etwas unsicher auf den schwarzen Samtpumps mit den hohen Absätzen, die sie in einem Anfall von Übermut angezogen hatte, schloß die Haustür auf, trat in den Flur und wußte quälende Sekunden lang nicht, was sie hier wollte. In der Küche ein Geräusch, im Flur ein Geruch, ein Schatten huschte vorüber. Eine Ratte? Sie schüttelte das Gefühl ab, nicht allein zu sein, und ging ins Kaminzimmer. Auf dem Schreibtisch lag das Buch nicht, auch nicht auf dem Sofatisch. Nicht neben dem Sofa, nicht im Bücherregal.
Konzentrier dich, dachte sie. Du hast es noch gehabt, kürzlich, in Gießen. Du bist nach Hause gefahren, viel zu langsam, warst ein Verkehrshindernis. Bist hier angekommen, hast das Buch …
Im Auto gelassen. Sie mußte es im Auto gelassen haben.
Es war kurz vor sieben.
Wieder schloß sie die Haustür, drehte den Schlüssel zweimal um und lief zum Auto. Das Buch lag auf dem Rücksitz. Sie atmete aus und tätschelte das glatte, kühle Autoblech. Sie liebte das Auto, eine echte Antiquität, außer der Sattler ein weiterer Luxus, den sie sich geleistet hatte von den Honoraren und Tantiemen. Geldsorgen hatte sie weiß Gott nicht mehr. Ihre Sorgen waren gänzlich anderer Natur. »Immateriell« war das richtige Wort.
Sie ließ den Wagen an, der Motor summte wie ein Bienenschwarm. Die Straße hinuntergleiten bis zur Hauptstraße, Ullas stets schlechtgelauntem Ehemann Peter zuwinken und den beiden Männern, die sie im Winter mit Holz beliefert hatten, Vater und Sohn, die Namen hatte sie vergessen, aber in diesem Fall machte das nichts, sie hatte genug Holz, und irgendwann würde es ja auch wieder Sommer werden.
Auf der Landstraße kam ihr im Abendlicht ein einsamer Radfahrer entgegen, ein schlanker Mann mit kurzem weißem Haar, er kam ihr vertraut vor. Grüßen, vorsichtshalber. Auf die B 49. Und dann die Abkürzung nehmen zur Autobahn, durchs Wäldchen. Ein leichter grüner Flaum bedeckte die Äste der Buchen. Das Verdeck knatterte. Kühle Luft strömte durch das halb heruntergekurbelte Fenster. Sie schaltete das Licht ein, begann sich zu entspannen und auf den Abend zu freuen.
Kurz vor der Kurve zog der Wagen plötzlich nach rechts. Es knatterte, ein Geräusch, das klang, als ob ein Hubschrauber über ihr in der Luft stand. Das Geräusch wurde lauter. Die Bäume kamen näher. Sie bremste, aber nichts geschah. Sie bremste mit aller Kraft, aber es dauerte unendlich lange, bis der Wagen zum Stehen kam. Sophie blieb sitzen, hörte ihr Herz klopfen und wartete, bis ihr Atem ruhiger wurde. Dann öffnete sie die Tür. Ihr schöner roter Luxusschlitten hing im Straßengraben, ein paar Zentimeter von einer borkigen Eiche entfernt.
Sie stieg aus und ging um das Auto herum. Von der Straße aus sah
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