Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
den Schläfen saß ein dumpfer Druck, und in seinem Magen machte sich schon beim Gedanken an Essen und Trinken ein flaues Gefühl breit.
Er trat in den Flur, zog die Tür hinter sich zu, ging in die Küche und legte das Buch auf den Tisch, Summer of Love, das er auf dem Heimweg bei seiner Stammbuchhandlung gekauft hatte, wo es direkt neben der Kasse lag. Sophie Winter war erfolgreich. Das tröstete.
Daneben legte er den Aktenordner, der Deckel von Feuchtigkeit aufgequollen und mit abgestoßenen Kanten. Der Geruch nach Staub und Papier verstärkte den Druck hinter seinen Schläfen, es war, als dünstete die Akte etwas aus, das ihm das Hirn vernebelte.
Warum bloß machst du dir die Mühe.
Ablenkung. Nur nicht an Feli denken.
Und was willst du finden?
Weiß nicht.
Wirklich nicht?
Ein paar Antworten, vielleicht. Warum fühlt sich eine Buchautorin verfolgt. Was hat die Literatur der Wirklichkeit zu bieten.
Noch etwas?
Ob wir den Fall Raabe heutzutage wohl aufklären könnten.
Na endlich. Ich dachte schon, du seist kein Polizist mehr.
Er öffnete das Fenster weit, obwohl es kühl war draußen, und setzte sich an den Tisch. Dann schlug er den Aktendeckel auf. Der erste Bericht sah ganz ordentlich aus.
»Von der Straße aus gelangt man durch ein Gartentor auf einen gepflasterten Weg, der zur Haustür führt. Neben der Haustür befindet sich ein Klingelknopf über einem Briefkasten. Es gibt kein Namensschild unter der Klingel. Die Klingel ist nicht in Takt. Auf dem Briefkasten ist mit Tesafilm ein maschinenschriftlicher Zettel befestigt, ausweislich dessen hier Neumann/Raabe/Simon wohnen.«
»Ausweislich dessen« -welch Eleganz! Da konnte einer noch schreiben. Und auch noch mit einer mechanischen Schreibmaschine. Da verzeiht man »in Takt«, zumal jemand das große T liebevoll geweißt, ein »t« eingefügt und die beiden Worte von Hand mit einem Schrägstrich verbunden hatte. DeLange blätterte weiter.
»Die Haustür ist oberhalb teilweise verglast und mit einem elektrischen Türschließer versehen. Das Schloß ist ein sogenanntes Buntbartschloß, die Türklinke befindet sich an der Innenseite. Nach normaler Benutzung reicht die Kraft des Öldruckschließers nicht aus, sie wieder zu schließen.«
Ein Öldruckschließer. Was für eine andere Welt war 1968.
Und so ging es weiter. Der Dreiminutenbrenner für das Flurlicht fand ebenso Beachtung wie die Kleiderablage und der Damenschirm, der auf ihr lag. Darunter ein Damenstrickmantel, der keine Auffälligkeiten aufwies. DeLange blätterte weiter. Polizeioberwachtmeister Gregor Kosinski, der den Tatortbericht verfaßt hatte, wies alle Tugenden auf, die man heute bei so vielen Kollegen vermißte. Und dabei hatte der Mann noch nicht einmal Abitur. War damals noch nicht üblich. Damals waren Polizisten bei den braven Bürgern ähnlich beliebt wie Soldaten. Man braucht sie, aber man schätzt sie nicht. Und da es nicht jedermanns Sache ist, für wenig Geld die Dreckarbeit zu machen, nahm man damals, wen man kriegen konnte. Selten die Besten.
Aber der Kollege Kosinski … Respekt.
Der Zustand des großen Wohnraums wurde ebenso detailfreudig beschrieben, der Standort des umgestürzten Sofas, des Sessels, des umgeworfenen Couchtischs.
»Unter dem Tisch liegen ein Aschenbecher, eine zerknüllte leere Zigarettenschachtel (Marke Gauloises) und ein zusammengeknüllter Straßenbahnfahrschein aus Frankfurt am Main. Soweit bei der 1. Besichtigung des Fahrscheins festgestellt werden kann, wurde dieser im Monat Mai abgestempelt.« Also etwa drei Monate bevor Alexandra Raabe das letzte Mal gesehen wurde.
DeLange überschlug die eher langweiligen Details aus Küche (unaufgeräumt) und Schlafzimmer (schwarzgestrichene Wände, ein Che-Guevara-Poster an der Wand, ein zwei mal zwei Meter großes Bett). Das war der Teil der Ermittlungsarbeit, gegen die KÜL Zobel nichts einzuwenden gehabt hatte. In der Tat perfekt.
Fragwürdiger die anderen Protokolle, die die Akte versammelte. Eine kurze Notiz nur zu einer Art Vorgeschichte. Offenbar hatte man den Bewohnern des Hauses schon vorher »Streiche« gespielt, wie es unnachahmlich harmlos hieß. Von Verunreinigung des Gartens war die Rede. Von einem angezündeten Auto. Aber vor allem davon, daß man erfolglos nach Drogen gesucht hatte – im Haus der drei jungen Leute, natürlich, nicht bei der Dorfjugend.
DeLange lehnte sich im Küchenstuhl zurück und legte die Beine auf den Tisch. Das war normalerweise streng verboten. »Du legst
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