Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
man nichts. Die Weißwandreifen glänzten über den rotlackierten Radkappen. Aber dort, wo der Wagen im Straßengraben hing, hatte sich das Gummi von der Felge abgelöst. Der Vorderreifen sah gar nicht gut aus.
Sophie lehnte sich an den Kotflügel und hätte fast gelacht. Sie sah sich auf den Knien liegen, den Wagenheber ansetzen, die Radmuttern lösen, den Ersatzreifen aufziehen. Der eigentliche Witz war, daß sie keinen Ersatzreifen dabeihatte. Der Mann, der ihr sein bestes Stück unter Tränen verkauft hatte, wollte den Ersatzreifen nachliefern, hatte bei jedem Anruf beteuert, daß er gleich morgen, nein: sofort! alles Nötige veranlassen würde. Irgendwann hatte sie aufgegeben nachzufragen. Irgendwann hatte sie die Sache mit dem fehlenden Ersatzreifen vergessen.
Und dann kam die Absurdität der Szene bei ihr an. Ein rotes Nuttenauto und eine nicht mehr ganz jugendliche Erfolgsautorin mit den zum Auto passenden Highheels mitten im Wald – so etwas mußte man erst einmal erfinden. Hoffentlich kam niemand vorbei. Ihr Ruf wäre endgültig ruiniert.
Aber die Zeit wurde knapp. Sie brauchte einen Abschleppdienst. Ein Ersatzauto. Jemand, der sie zur Lesung fuhr. Schnell.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Mobiltelefon in der Handtasche aufgestöbert hatte. Erst der ADAC. Dann Regine. Regine mußte die Veranstalter anrufen, sagen, daß sie auf dem Weg sei, aber später käme, daß man warten möge.
Sie klappte das kleine silberne Handy auf, wollte sich zum ADAC durchtasten, vertippte sich. Rief erneut das Menü auf, tippte diesmal richtig und hielt sich das Telefon ans Ohr. Und dann rutschte es ihr aus der Hand. Es kam mit einem trockenen Schmatzen auf dem Asphalt auf und zerplatzte. Sophie stand in der Dämmerung unter den dunklen Bäumen und wußte minutenlang nicht, was sie tun sollte. Endlich ging sie auf die Knie und tastete nach den Einzelteilen. Ein Kleinwagen kurvte heran, blendete auf, schlitterte an ihr vorbei, hupend. Dann grölte jemand irgend etwas, es klang nicht freundlich. Sie hatte das Auto nicht kommen gehört.
Als sie die Teile aufgesammelt hatte und mit zitternden Händen versuchte, sie zusammenzufügen, fehlte der Akku. Wieder ging sie in die Knie, tastete den Boden mit der Hand ab, faßte in eine spitze Buchecker vom Vorjahr und in mulchiges Laub. Nichts. Der Adrenalinschock trieb ihren Puls hoch.
Du mußt. Pünktlich bei der Lesung sein. Beim ADAC anrufen. Die Stelle, an der das Auto stand, halb auf der Fahrbahn, absichern. Pünktlich bei der Lesung sein. Regine anrufen. Den ADAC alarmieren. Pünktlich bei der Lesung sein. Du mußt.
Am liebsten hätte sie geweint. Reiß dich zusammen, dachte sie. Tränen ruinieren das Make-up. Und wie sähe das aus, wenn doch noch jemand käme?
Sie zog das Warndreieck aus der Schutzhülle und ging auf unsicheren Beinen zurück. Vor der Kurve stellte sie das nicht sehr stabil wirkende Plastikschild auf und hoffte, daß niemand in ihr Auto fuhr, bevor sie Hilfe holen konnte. Ihr Traumauto, zerquetscht und zerschrammt. Das war die schlimmste Vorstellung. Dann machte sie sich zu Fuß auf den Weg nach Hause.
Es war dunkel geworden. Eine weiße Eule schwebte auf Armeslänge über sie hinweg, als sie aus dem Wäldchen trat. Auf den Wiesen stand das Wiesenschaumkraut wie ausgeflockte Milch auf dem Kaffee. Niemand fuhr an ihr vorbei, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Und plötzlich erinnerte sie sich an die Nacht vor vierzig Jahren. Sie war allein in Frankfurt unterwegs gewesen, auf irgendeinem Fest, das sie noch vor Mitternacht verließ, die Leute waren verklemmte Spießer und langweilten sie. Sie lief nach Hause, in langen schwarzen Wildlederstiefeln mit Plateausohlen, von einem Ende der Stadt zum anderen, das ging in Frankfurt, es war ja, räumlich gesehen, keine große Stadt. Irgendwann hatte sie sich von den belebteren Straßen entfernt und war auf einer Ausfallstraße gelandet, rechts und links Kasernen, in denen amerikanische Soldaten untergebracht waren.
Die Amerikaner. Seit wie vielen Jahren waren sie schon abgezogen, die amerikanischen Besatzer? Früher gehörten sie dazu, die GIs, Frauen, Männer, Schwarze, Weiße in ihren lässigen khakifarbenen Uniformen und den Schnürstiefeln, sie bestimmten das Stadtbild, man hatte sich an sie gewöhnt.
Als sie Schritte hinter sich hörte, ging sie schneller. Aber sie wurde nicht mißtrauisch, als es plötzlich still war in ihrem Rücken. Und dann hatte er sie gepackt und hinter die Hecke eines
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