Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
und den Vorteilen für die unbescholtenen Bürger ins Blöckchen und verabschiedete sich hastig, als er Dr. D. in der Tür stehen sah.
Neumann-v. Braun fiel auf. Er hatte zwar keine Haare mehr, dazu helle Augen unter nicht vorhandenen Augenbrauen, schmale Lippen und eine Figur wie ein graues Fragezeichen, kämpfte aber einen wackeren Kampf gegen das Verblassen: die Brille ein durchscheinendes Rot, das Hemd ein strahlendes Blau, der Anzug ein elegantes Anthrazit. Einzig der Binder erinnerte mit geschmackvollen Senftönen an die Farben des kleineren Koalitionspartners der derzeitigen Regierung.
»Herr Neumann-v. Braun«, sagte DeLange und hielt ihm die Hand hin. »Freut mich.« Die Ministerin war überaus empfindlich und bestand auf der korrekten Anrede, aber ihr Parteifreund Dr. D. wollte noch nicht einmal mit seinem akademischen Titel angesprochen werden. Wie fortschrittlich der gute alte Charlie war, erkannte man nicht nur an seinem Doppelnamen.
»Herr DeLange«, sagte Neumann-v. Braun und griff beherzt zu. »Wie geht’s?«
DeLange komplimentierte ihn zum Tisch mit den Getränken. Der Mann kam zu früh und auch noch allein. Was Besseres konnte gar nicht passieren.
»Ich habe kürzlich an Sie gedacht«, sagte DeLange und reichte Neumann-v. Braun ein Glas Mineralwasser.
»Ich weiß schon. Ich soll Ihnen den Namen meines Friseurs verraten.« Der Kerl grinste mit einer Schamlosigkeit, die ihm einen strengen Blick der Ministerin eingetragen hätte, wenn sie denn dagewesen wäre.
»Fast getroffen.« DeLange grinste ebenso schamlos zurück. Vor einer Glatze fürchtete er sich nicht. Genetische Begünstigung. Der alte DeLange hatte bis zuletzt noch alle Haare gehabt. Ungefärbt.
»Ich bin kürzlich Ihrem Namen begegnet. In einer vierzig Jahre alten Akte.«
»Aua.« Dr. D. schüttelte sich. »Ich bin enttarnt. Was war’s? Rowdytum? Beteiligung an einer Straßenschlacht? Illegaler Drogenbesitz?« Und dann, mit Verschwörerlächeln: »Sie wissen doch, warum ich meinen Namen geändert habe, oder? Um nicht mehr auf der Fahndungsliste zu stehen!«
DeLange lachte, als ob er den Scherz noch nie gehört hätte. »Ich habe kürzlich eine Akte angefordert, weil mir der Fall für die Lehrmittelsammlung in unserem Museum geeignet zu sein scheint. Eine vierzig Jahre alte Vermißtensache.«
Neumann-v. Braun grüßte einen Berichterstatter von der Freien Presse. Die beiden waren per du. Ob das der unabhängigen Berichterstattung dienlich war? Ach, wer fragte noch danach.
»Bei der Durchsicht der Akte …«
»Ich hab nichts gegen Uniformen, wenn sie gut sitzen«, raunte Neumann-v. Braun beim Anblick der zugegebenermaßen ansehnlichen Oberkommissarin vom 3. Polizeirevier, deren Name DeLange entfallen war.
»Bevor ich die Akte in die Lehrmittelsammlung aufnehme …«
»Ihr Museum ist sicher sehr verdienstvoll und gewiß eine schöne Werbung für das Frankfurter Polizeipräsidium. Das ist jede Unterstützung wert.«
DeLange quittierte das halbherzige Kompliment mit einem Kopfnicken. »Um den Fall kurz zu umreißen: Eine junge Frau verschwindet.«
»Und da denken Sie gleich an mich?« Der Mann konnte keinem schlechten Witz widerstehen. Aber DeLange entging nicht, daß seine Augen hellwach waren. Neumann war auf der Hut.
»Die junge Frau wird zuletzt am 12. August 1968 in einer Siedlung nahe einem hessischen Dörfchen namens Klein-Roda gesehen. Die Eltern beginnen erst zwei Monate später, nach ihr zu suchen. Ihre Tochter bleibt verschwunden, spurlos bis heute. Ich habe die Akte daraufhin überprüft, ob es sich im Lichte unserer heutigen Möglichkeiten empfiehlt, die Sache neu aufzurollen. Ohne diese Prüfung wollte ich sie der Öffentlichkeit nicht zugänglich machen.«
»Verstehe«, sagte Neumann-v. Braun und stellte das geleerte Glas auf den Tisch mit den Pressemappen.
»Die zuständige Staatsanwaltschaft hat zwar die Akte freigegeben.« DeLange steuerte den Mann in die hinterste Ecke des Raums. Viel Zeit hatte er nicht mehr, bevor die Show losging. »Aber – und weshalb ich an Sie gedacht habe …«
»Na, jetzt aber raus mit der Sprache, DeLange. Ich bin ja nicht zum Spaß hier.«
»Das Mädchen wohnte mit einer anderen jungen Frau und einem jungen Mann zusammen, was den Dorfbewohnern nicht gefiel. Freie Liebe und Drogen. Das mochte man nicht auf dem Land.«
»Kann man verstehen«, sagte Neumann-v. Braun und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls aus heutiger Sicht.«
»Es kam zu Tätlichkeiten von selten der
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