Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
fester in die Pedale. Walter tat ihm leid, ein Gefühl, das natürlich nicht erlaubt war. Manz war ein freundlicher, drahtiger Kerl, der hart arbeitete und nie klagte. Er wirkte nicht wie ein Päderast. Aber wem sieht man schon an, welche geheimen Leidenschaften er pflegt? Und Luca war ein schöner Bengel, fast feminin, was ihm das Leben in der Schule nicht leichtgemacht haben dürfte. Aber wie man hörte, wußte er sich zu wehren.
Und deshalb glaubte Bremer nicht an die These vom Mißbrauch durch den Freund der Mutter. Mit einem Zwölfjährigen kann man nicht mehr alles machen.
»Und die Fotos?« Marianne kannte keine Gnade mit dem Zugezogenen aus Thüringen. Die, fand Bremer, bewiesen erst recht nichts. Kein widerspenstiger Junge läßt sich gegen seinen Willen in Frauenfummeln ablichten.
Man wußte es einfach nicht. Man wußte viel zuwenig, auch in Klein-Roda, wo man alles sah und vieles nicht sehen wollte, weil sonst das Leben unerträglich wäre.
Außer ihm gab es nur einen weiteren Menschen in Klein-Roda, der nicht daran glaubte, daß Walter Manz Luca auf dem Gewissen hatte: Marie. Marie glaubte, daß das Böse in »Heinrichs Verhängnis« wohnte. Sie glaubte an das Böse in Gestalt von Sophie Winter. Das glaubte Bremer noch weniger.
Der Regen wurde stärker. Er wich den Pfützen aus, bevor er den Feldweg hochsprintete, und duckte sich dann in die Abfahrt. An diesem Morgen war ihm nicht nach der großen Runde. Er nahm die Abkürzung nach Klein-Roda, die am Friedhof vorbeiführte.
Warum er vor dem geöffneten Tor bremste – er wäre fast auf dem nassen Pflaster ausgerutscht –, warum er abstieg und das Rad an den Torpfosten lehnte, wußte er später nicht mehr zu sagen. Gottfried, sonst nicht sehr religiös, brachte den lieben Gott ins Spiel. Jedenfalls fiel Bremer auf, daß der blaue Fleck unter all dem rosa Heidekraut zwischen dem immergrünen Efeu und den Thujasträuchern nichts zu suchen hatte, und er ging hinein. Sie lag mitten auf dem Weg, hinter dem Grab der alten Hannah und neben einer größeren und älteren Grabstelle, vor der ein ewiges Licht stand, das sogar brannte.
Bremer hatte sich nie dafür interessiert, warum Marie so häufig den Friedhof besuchte, das machte man wohl so, wenn Eltern und Großeltern ganz in der Nähe begraben waren. Für ihn galt das nicht. Das Grab seiner Mutter lag weit weg, und das seines Vaters ging ihn nichts an. Und das des Ersatzvaters? Er sah Großonkel Wallenstein lächeln, dem er sein komfortables Leben zu verdanken hatte. Der alte Herr hatte auch zu Lebzeiten keine häufigen Besuche erwartet und hätte sich gewundert, wäre aus Bremer ein eifriger Friedhofsgänger geworden.
Zumal bei diesem Wetter. Er beugte sich über Marie und half ihr auf. Sie war blaß und hatte eiskalte Finger.
»Was machst du denn hier draußen im Regen?« fragte er liebevoll und hielt sie im Arm, damit sie nicht wieder stürzte.
»Erika«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Sie hat heute Geburtstag.«
Bremer warf einen Blick auf den Grabstein. »Erika Berg, 6. April 1951 bis 21. März 1971«. Das Mädchen, von dem Gottfried geglaubt hatte, es vor fremdem Einfluß beschützen zu müssen, war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt geworden.
Und plötzlich schämte er sich für … Für Hochnäsigkeit, dachte er. Für moralisches Überlegenheitsgetue. Für die Verachtung jener uralten Instinkte, die dafür sorgten, daß man für seine Nächsten kämpfte. Manchmal war die Toleranz, mit der Menschen sich großzügig zeigen wollen, nur ein anderes Wort für Gleichgültigkeit.
Ob Gottfried ihn willkommen hieß? Er führte Marie die paar Meter den Friedhofsweg hinunter.
»Marie! Ich wollte schon nach dir sehen …« Gottfried öffnete die Haustür. Dann riß er sie weit auf. »Was ist passiert, um Himmels willen?«
»Sie muß umgekippt sein«, sagte Bremer und führte Marie ins Wohnzimmer, zum Sofa vor dem bullernden Holzofen. Nach der Kälte draußen war es viel zu heiß in dem kleinen Raum.
»Wo?«
»Auf dem Friedhof.«
Gottfried schwieg. Und dann sagte er leise: »Das bringt doch nichts, Marie. Laß Erika ruhen.«
Marie sank aufs Sofa und schloß die Augen. »Aber sie hat doch Geburtstag. Und ich denke so oft an sie in letzter Zeit«, flüsterte sie. »Denkst du nicht auch manchmal an damals?«
Gottfried nickte, als ob er Frage wie Antwort gründlich leid wäre.
»Was war damals, Marie?« fragte Bremer leise. Gottfrieds Blick zum Himmel entging ihm nicht, und der war leicht zu
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