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Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse

Titel: Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Beinssen
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liegen. Beim Näherkommen erkannte er einen Malblock, aus dem schon fast alle Blätter herausgerissen waren, daneben einen Malkasten, so wie ihn Grundschüler benutzen. Fast alle Farben waren aufgebraucht. »Er hat gemalt«, stellte er verwundert fest.
    »Sicher hat er gemalt«, sagte Fink. »Das war sein Job.«
    »Sein Job?«
    Fink nickte nachdenklich. »Ja, in dem armen Kerl stecken viele Talente. Ich kenne seinen Werdegang. Kein sehr glücklicher. Zunächst war er Kirchenmaler, aber das füllte ihn offenbar nicht aus. Er entschloss sich zu einem Studium der Kunstgeschichte und ist auch ziemlich weit gekommen. Er war sehr intelligent. Aber er hatte schon früh Probleme mit Alkohol und anderem Zeug. Er brach das Studium mittendrin ab und hat nie seinen Abschluss an der Uni nachgeholt, obwohl ich es ihm immer wieder geraten habe.«
    Paul nickte. Er hob den Zeichenblock auf und blätterte darin herum. Die wenigen Reste zeigten rudimentäre Skizzen, mehr nicht. Paul wollte den Block schon weglegen, als er bei einem Bild hängen blieb. Er blickte in zwei Augen. Es waren tatsächlich nur Augen. Nichts drum herum. »Das ist erstaunlich«, sagte er.
    »Was?«, Fink trat interessiert näher.
    »Diese Augen«, Paul drehte das Bild, »da fehlt das Gesicht.«
    »Ja«, bestätigte der Pfarrer, »nicht einmal Augenbrauen hat er gemalt. Aber die Augen selbst sind gut getroffen. Wirken sehr lebendig.«
    »Allerdings«, Paul starrte fasziniert auf die Zeichnung, »sie kommen mir bekannt vor.«
    »Die Augen?«
    »Ja. Es ist, als würde ich diesen Blick kennen.«
    »Aber es fehlt das Gesicht. Keine Nase, kein Mund. Wie gesagt: Nicht einmal die Brauen hat er dazugemalt«, sagte Fink. »Wie willst du da etwas erkennen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Paul. »Es ist nur so ein Gefühl.«
    »Und hier …«, Fink war inzwischen zurück zum Mittelsteg gegangen und zeigte auf einen kindshohen Blechkranz, der einen Kreis von etwa anderthalb Metern Durchmesser bildete.
    »Hier muss er durchgefallen sein, der Unglückliche.«
    Paul folgte ihm zögernd, denn der Weg war kaum beleuchtet. Er blickte über den Rand des Blechkranzes hinweg und zuckte erschrocken zurück.
    »Starke Aussicht, was?«, fragte der Pfarrer provokant. »Bis nach unten sind es genau achtundzwanzig Meter. Den Sturz überlebt niemand. Wahrscheinlich hat er von hier aus die Gemeindemitglieder beobachtet und ist übermütig geworden.«
    Paul wagte sich erneut vor. Er blickte hinab und konnte direkt auf das pechschwarze Dach des Sebaldusgrabes schauen. Die Gliedmaßen der Leiche sahen von hier bizarr verbogen aus. Wie eine willkürliche Ansammlung zerbrochener Streichhölzer.
    »Wozu dient das Loch?«, wollte er wissen.
    »Das weiß keiner genau«, sagte Fink. »Am wahrscheinlichsten ist die Theorie, dass hier an Himmelfahrt die Christusfigur hochgezogen wurde. So was gehörte zur mittelalterlichen Schaufrömmigkeit. Damals musste man den Leuten Action bieten, um sie in die Kirche zu locken – na ja, vielleicht wäre das heute auch wieder nötig.«
    Ein Knarren und Dröhnen hallte durchs Kirchenschiff bis zu ihnen hinauf. Dann hörten sie Stimmen.
    »Die Polizei ist da«, sagte Fink. »Wir sollten nach unten gehen.«
    »Ja«, stimmte Paul zu.
    Fink hatte sich bereits zum Gehen gewandt, als Paul einer spontanen Intuition folgend das Bild mit den Augen aus dem Block riss, bevor er ihn zurück in die Nische legte. Er faltete den Zettel und steckte ihn in seine Hosentasche. Katinka sollte sich die Skizze ansehen, bevor sie bei der Polizei in irgendeinem Aktenordner verschwinden konnte.
     
    Paul machte in dieser Nacht kein Auge zu. Sein Atelier lag im nächtlichen Dunkel. Die Luken seines Dachfensters waren weit geöffnet, um die stickige Heizungsluft herauszulassen.
    Es kam – einmal abgesehen von den letzten Tagen – nicht oft vor, dass er sich einsam fühlte. Er hatte sich auf das Leben als Single eingerichtet und vermisste weder einen festen Partner noch eine Familie. Vielleicht war der Zug für ihn abgefahren. Vielleicht auch nicht. Paul spürte keinen Drang, sich selbst unter Druck zu setzen.
    Er dachte an einen alten Freund zurück, der ebenfalls Fotograf war. Sie hatten eine ganze Zeit lang zusammengearbeitet. Paul erinnerte sich gern an die vielen gemeinsamen Termine, bei denen sie sich assistiert und angespornt hatten, immer in freundschaftlicher Konkurrenz zueinander.
    Rechtzeitig vor ihren Aufträgen trafen sie sich in verschiedenen Nürnberger Frühstückslokalen und

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