Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
einmal nur ein Bild machen«, sagte der Pfarrer und steuerte zielstrebig auf die Südturmhalle zu. Sie verließen das Hauptschiff in Richtung einer unscheinbaren Nische, einer schlichten Gebetsecke. Der Pfarrer nestelte an seiner Hosentasche und zog einen archaisch anmutenden Schlüssel mit großem, gezacktem Bart heraus. Die hölzerne Tür mit Eisenbeschlägen quietschte beim Öffnen.
»Wenn die Türen so gut verschlossen sind, wie konnte der Obdachlose dann nach oben gelangen?«, wollte Paul wissen.
Der Pfarrer lächelte nachsichtig: »Schau dir doch die alten Schließanlagen an. Die kriegt man genauso gut mit einem zurechtgebogenen Stück Draht auf.«
Paul folgte Fink eine schmale Wendeltreppe mit einem dünnen Eisengeländer hinauf. Die Steinstufen waren abgetreten, und je höher sie kamen, desto schmuddeliger wirkten die Wände. Das flaue Licht der wenigen lieblos angebrachten Birnen in simplen Blechfassungen ließ einige verstaubte Heiligenfiguren in vergessenen Winkeln des Treppenhauses erahnen.
Die Treppe endete unspektakulär vor einer schludrig zusammengezimmerten Holztür. Fink öffnete sie und führte Paul auf eine Empore, den Engelschor. Vor ihnen erstreckte sich schmal, hoch und schlicht das Langhaus der Kirche, an dessen Ende der schwarze Kubus des Sebaldusgrabes und daneben der Tote zu sehen waren. Sie standen gut fünfzehn Meter über dem Kirchengestühl, das von hier oben winzig und zerbrechlich aussah. Paul ging nur zögernd weiter, denn hier gab es kein Geländer mehr.
Fink setzte seinen Weg unbeirrt fort. Seine vollen Wangen glühten rosig. Paul folgte, bemerkte aber mit Unbehagen, dass die Stiegen immer schmaler wurden. Er wusste, dass die Kirchtürme siebzig oder achtzig Meter hoch waren. Die Hälfte, schätzte er, hatten sie zurückgelegt. In diesem Moment verließ Fink erneut das Treppenhaus. Sie kamen an nachträglich eingebauten Stahlbetonwänden vorbei, bevor sich ihnen der Blick auf den Dachboden öffnete. Hoch aufragend, versehen mit unzähligen Längs- und Querstreben, zwischen denen das Kaminrot der Dachschindeln durchschimmerte. Der gigantische Aufbau sah für Paul aus wie der Bauch eines auf den Kopf gestellten Schiffes.
Für einen Moment vergaß er den Grund ihrer Kletterpartie und berührte ehrfürchtig die verwitterten Sandsteinquader einer Wand, auf der Reste aufwändiger Steinmetzarbeiten zu erkennen waren. Die Wand stand völlig frei in dem riesigen Dachstuhl und hatte weder eine tragende Funktion noch irgendeinen anderen ersichtlichen Zweck. »Was ist das?«, fragte er.
»Das ist nichts mehr«, sagte Fink lapidar. »Das war mal etwas: die Fassade des romanischen Teils der Kirche.«
»Eine alte Fassade?«
Fink nickte. »In der frühen Gotik ist die Kirche erweitert worden. Die Baumeister haben die neue Kirche einfach um die alte herumgebaut. Die Außenmauer ist zum Teil stehen geblieben.«
»Eine Kirche in der Kirche. Nicht schlecht«, sinnierte Paul, doch Fink trieb ihn zur Eile. Sie betraten einen Holzsteg, der zu beiden Seiten lediglich mit einem hölzernen Handlauf gesichert war. Darunter bildeten die mausgrauen Halbkugeln des Tonnengewölbes eine bizarre architektonische Landschaft.
»Bleib unter allen Umständen auf dem Steg. Das Kreuzrippengewölbe kann dich nicht halten«, ermahnte ihn der Pfarrer. Aber das brauchte er gar nicht. Paul hatte absolut nicht vor, den sicheren Weg zu verlassen, wo doch schon die Holzdielen unter seinen Füßen bei jedem Schritt beängstigend knarzten. Er wagte es kaum, nach unten zu blicken. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass sie jetzt direkt oberhalb eines der großen Kronleuchter waren, dessen Gegenpol und Fixierung wie ein überdimensionales Wagenrad aussah.
»So, das ist es«, sagte Fink und deutete auf eine Nische, in die ein schäbiger Rucksack und eine unansehnliche Daunendecke gestopft waren. »Hier hat er gehaust.«
Paul sah sich ungläubig auf dem zugigen Dachboden um. Hier war es kalt und ungemütlich. Staub und Spinnweben, Holzsplitter und zerbrochene Dachziegel überall. Und es hätte ihn nicht gewundert, wenn im nächsten Augenblick ein Schwarm Fledermäuse aufgestiegen wäre.
»Sieh mal hier«, Fink winkte Paul zu einer anderen Nische herüber. »Altarkerzen. Die hat er geklaut. Ich glaube nicht, dass er dafür etwas in den Klingelbeutel geworfen hat.«
Paul betrachtete die traurige Unterkunft des Toten und fragte sich, wie ein Mensch so leben konnte. In einer anderen Ecke sah er etwas auf dem Boden
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