Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
benoteten sie für ihren ganz persönlichen Frühstückslokaltest. Die Qualität vom Rührei mit Speck spielte dabei eine ebenso große Rolle wie der Preis des Milchkaffees und ihr Urteil darüber, wie knackig der Hintern der Bedienung war.
Sie tauschten sich in allen wichtigen und unwichtigen Dingen des Lebens aus. Belanglosigkeiten gewannen in ihren Diskussionen nicht selten größere Bedeutung als die vermeintlich wichtigen Dinge des Lebens. Dieser Freund hatte Paul Wahrheiten sagen dürfen, die aus dem Mund eines anderen beleidigend und entwürdigend gewesen wären.
Irgendwann sagte er kurzfristig ein Skifahren am Wochenende ab. Wenig später zog er zu der Frau, die er liebte, nach Salzburg. Paul und sein Freund hatten noch Kontakt. Allerdings selten.
Nein, Paul war kein überzeugter Single. Dennoch hatte er diese Rolle bewusst gewählt und würde sich immer wieder aufs Neue für diesen Lebensweg entscheiden. Einer der Zwiespälte, die ihn ausmachten.
Er rollte sich in seinem Bett zur Seite. Das Bett war breit für zwei. Die Kälte, die durch die Dachluken ins Atelier strömte, kroch unter sein Laken.
Ihm fröstelte, und er fühlte sich nun doch sehr einsam.
19
Am nächsten Morgen war er entsprechend unausgeschlafen und zermürbt. Kaum aufgestanden, kamen ihm die fürchterlichen Eindrücke des Vortages in den Sinn. Er konnte die schrecklichen Bilder von dem zerschmetterten Leichnam nicht abschütteln.
Außerdem schwirrten noch immer die vier offenen Fragen durch seinen Kopf, die er sich vor seinem Besuch bei Pfarrer Fink zurechtgelegt hatte: vor allem die letzte, die seine finanzielle Situation anbelangte. Er griff also zum Telefonhörer.
Erstaunlicherweise war Blohfeld gut aufgelegt. Er ließ sich von Paul jedes Detail über den Tod des früheren Kunststudenten in der Sebalduskirche schildern und beschwerte sich nicht einmal darüber, dass Paul sämtliche Fotos von der Leiche Pfarrer Fink überlassen hatte. Und als ihn Paul um ein weiteres Honorar anging, ohne eine konkrete Gegenleistung benennen zu können, sagte der Reporter überraschend zu. »Das geht schon in Ordnung. Ich lasse Ihnen ein paar zusätzliche Fotos als Ausfallhonorar vergüten. Das fällt der Buchhaltung nicht auf.«
»Was muss ich dafür tun?«, hakte Paul nach.
»Nichts. Bleiben Sie nur einfach am Ball«, flötete der Reporter gönnerhaft in den Hörer. »Und was unser Treffen angeht: Seien Sie in einer Viertelstunde am U-Bahnhof Plärrer. Es gibt viel zu bereden.« Blohfeld hängte ein.
Besser gelaunt als kurz nach dem Aufstehen verließ Paul das Haus. Die Obstfrau war die Erste, die er im blendenden Weiß des Neuschnees wahrnahm. Sie starrte ihn so direkt an, dass er ihrem Blick nicht ausweichen konnte. Mit Lenas Worten im Hinterkopf hob er zögerlich eine Hand zum Gruß – seine Unvoreingenommenheit war dahin. »Morgen«, sagte er freundlich, aber kurz angebunden von weitem.
»Guten Morgen, Herr Flemming.« Die Gemüseverkäuferin strahlte ihn an.
Er machte sich auf den Weg zum Bäcker und stapfte mühsam durch die weiße Masse, die zu räumen niemand mehr imstande war. Beim Betreten des Ladens schlug ihm die feuchtwarme Luft der Backstube entgegen, und er fing in seiner dicken Winterkluft sofort an zu schwitzen.
Der Bäcker beäugte ihn wie immer skeptisch distanziert. Als Paul seine Zeitung bezahlen wollte, meldete sich sein Handy. Mit entschuldigender Geste legte er die Geldbörse beiseite und drückte die grüne Taste.
»Wo bleiben Sie denn?«, schepperte Victor Blohfelds Stimme aus dem Apparat. »Wir sind spät dran. Ich warte auf Sie!«
Mit Blohfelds Gönnerhaftigkeit schien es bereits wieder zu Ende zu sein. Paul bahnte sich seinen Weg durch das immer stärker werdende Schneegestöber zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, wobei er sich den Schal schützend vor den Mund zog.
Erschöpft ließ er sich in einen Sitz der Linie neun fallen und schaute beunruhigt auf die Uhr. Kurz bevor die Straßenbahn den zentralen Verkehrsknotenpunkt erreicht hatte, sah er den Reporter bereits vorm U-Bahn-Eingang stehen. Blohfelds graues Haar lugte unter einem ebenfalls grauen Hut hervor, die Himmelfahrtsnase leuchtete frostig rot.
»Das waren mehr als fünfzehn Minuten«, grüßte der Reporter mit einem angedeuteten Lächeln.
Paul passte Blohfelds Ton ganz und gar nicht. Ihm wurde ein Mal mehr klar, warum er sich vor Jahren dagegen entschieden hatte, sein Geld als Pressefotograf zu verdienen.
Doch im Grund hatte Blohfeld
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