Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
beschlagnahmt und untersucht.« Er fragte sich besorgt, ob Blohfeld keine besseren Ideen hatte, sich aus der Klemme zu befreien. Zeit genug zum Denken hatte er schließlich gehabt.
»Trotzdem möchte ich, dass Sie noch einmal genau nachsehen«, beharrte Blohfeld auf seiner Bitte. »Vielleicht wurde irgendetwas übersehen.«
»Nachsehen?«, fragte Paul perplex. »Wo denn?«
»In Antoinettes und Hannahs gemeinsamer Wohnung. Überzeugen Sie Hannah davon, dass Sie das ganze Appartement auf den Kopf stellen müssen. Schauen Sie in jeder Ritze nach, tasten Sie das Polster ihres Bettes ab, durchwühlen Sie den Kleiderschrank, heben Sie den Teppich an. Irgendwo muss es einen Hinweis geben.«
Paul sagte Blohfeld, dass er darüber morgen nachdenken würde. Jetzt war es auch für ihn an der Zeit sich hinzulegen.
Paul war zutiefst erschöpft, gleichzeitig jedoch viel zu aufgekratzt, um einschlafen zu können. Er wälzte sich hin und her und versuchte, die Eindrücke von dem verpatzten Abend mit Katinka zu verdrängen.
Seine Gedanken wanderten wieder zu Blohfeld, dann zu Hannah und landeten schließlich bei Antoinette – der Französin, die sich in Nürnberger Angelegenheiten gemischt hatte.
Paul dachte zurück an seinen letzten Besuch bei Pfarrer Fink. Und an die Bilder des heiligen Sebaldus, die er in seiner Kirche aufgehängt hatte. Paul wusste nicht viel über den Stadtheiligen, aber er meinte sich zu erinnern, dass auch St. Sebald kein gebürtiger Nürnberger war.
Er knipste das Licht an und ging zu seiner hauptsächlich mit Bildbänden und Romanen gefüllten Bücherwand. Er ließ seinen Zeigefinger über die Buchrücken gleiten, bis er schließlich fündig wurde und einen schon reichlich abgestoßenen Band über die Nürnberger Stadt- und Kulturgeschichte hervorzog.
Paul nahm den schweren Wälzer mit zu seinem Sofa und suchte nach einem Kapitel über St. Sebald. »Sebaldus, Stadtpatron Nürnbergs, gestorben um 1070«, las er und übersprang großzügig einige Spalten. »Historisch gesichert ist über Sebaldus kaum mehr bekannt, als dass er im Westen des entstehenden Nürnbergs bei Poppenreuth als Einsiedler im Wald lebte. Die älteste Legendenüberlieferung im 1280 entstandenen Reimoffizium Nuremberg extolleris sieht in Sebaldus einen Zeitgenossen Kaiser Heinrichs III. und behauptet, Sebaldus stamme aus einem vornehmen Geschlecht in Frankreich.«
»Na also«, sagte er und fühlte sich bestätigt.
Er schlug das Buch zu und legte sich wieder hin. Er schloss die Augen und suchte in seinem Geist nach weiteren Parallelen, Verknüpfungen, Eingaben, Hinweisen …
29
Paul kam Blohfelds Bitte gleich am nächsten Morgen nach. Die Zeit bis halb zehn – einem seiner Meinung nach zumutbaren Zeitpunkt, um eine Studentin zu wecken – vertrieb er sich erst mit Liegestützen und dann mit Brötchen, Kaffee und der Tageszeitung. Von Blohfeld selbst war nichts zu sehen oder zu hören; er schien noch immer den Schlaf der Gerechten zu schlafen. Zumindest war die Tür zum Archiv fest verschlossen, und Paul hatte keineswegs die Absicht, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Paul erwischte eine sehr verschlafene Hannah am Telefon. Glücklicherweise fiel ihm rechtzeitig wieder ein, dass er womöglich schon abgehört wurde. Er ging daher nicht auf die näheren Umstände seines Anrufes ein, sondern schlug lediglich vor, Hannah im Noricus zu besuchen.
»Warum wollen Sie denn ausgerechnet zu mir in meine enge Bude? Treffen wir uns lieber bei Ihnen.«
»Nein, es bleibt dabei: Ich komme zu dir«, sagte Paul resolut.
Mit der Straßenbahn hatte er den Hochhauskomplex am Wöhrder See bald erreicht. Er fragte sich wieder einmal, warum man in den siebziger Jahren solche scheußlichen Wohnbunker gebaut hatte. Noch mehr wunderte er sich allerdings darüber, wie ein vernünftiger Mensch wie Hannah in diesen aus Beton gegossenen, gigantischen Hühnerstall freiwillig einziehen konnte.
Paul konnte den Eingang nicht finden. Er fragte zunächst eine Mutter, die mit ihren drei Kindern gerade einen der Wohntürme verließ. Sie beschrieb ihm freundlich den Weg. Auch eine ältere Dame, der er später im Treppenhaus begegnete, erwies sich als ausgesprochen höflich. Paul nannte Hannahs Namen, worauf sie ihm bereitwillig die Nummer des Stockwerks nannte.
Ein wenig fühlte sich Paul ertappt. Sein Bild vom Noricus war mit Vorurteilen behaftet. Er brachte die Hochhäuser mit hässlichen Graffiti, pöbelnden Jugendgangs und Rauschgiftbestecken in den
Weitere Kostenlose Bücher