Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
hatte.
Er sah sich aufmerksam im Zimmer um und entdeckte einen auffälligen Gegenstand in einer Ecke. »Was ist das?«, fragte er verblüfft.
»Eine Klarinette«, sagte Hannah.
»Das sehe ich auch. Aber warum ist sie lila?«
»Vielleicht hatte Antoinette etwas gegen spießige Holztöne«, unterstellte Hannah.
Paul näherte sich behutsam dem Musikinstrument. »Eine lilafarbene Klarinette – findest du nicht, dass das ein wenig seltsam ist?«
»Keine Ahnung. War mir auch egal, solange sie nicht darauf spielte.«
»Hat sie dir damit wohl den Schlaf geraubt?«
Hannah lächelte traurig. »Nein. Antoinette war sehr rücksichtsvoll. Sie hat das Ding eigentlich nie benutzt.«
Paul streckte seine Hände nach der Klarinette aus. »Darf ich?«, fragte er.
»Mein Gott – ich komme mir vor wie ein Einbrecher in der eigenen Wohnung«, sagte Hannah.
»Das bist du genau genommen ja auch«, bestätigte Paul. »Wir tauchen gerade unautorisiert in Antoinettes Privatsphäre ein. Aber wir haben einen verdammt guten Grund dafür.«
Er löste die Klarinette vorsichtig von dem Stativ und hob sie sachte an. Er betrachtete zunächst prüfend das Mundstück und anschließend den Trichter. Dann setzte er dazu an, das Kopfteil abzuschrauben.
»Was tun Sie da?«, mischte sich Hannah ein.
»Ich werde die Klarinette auseinander nehmen«, sagte Paul und betonte jedes Wort. »Du sagtest, dass das Instrument nie gespielt wurde. Ich ahne, warum. Ich glaube, wir werden darin die Lösung für unser großes Rätsel finden.«
Hannah beobachtete ihn eine Weile dabei, wie er ungelenk versuchte, die Klarinette in ihre Bestandteile zu zerlegen. Dann mischte sie sich wieder ein: »Und ich glaube, Sie sind auf dem Holzweg. Im wahrsten Sinne des Wortes.« Hannah grinste ihn mit einer gewissen Schadenfreude an. »Zum echten Detektiv fehlt Ihnen noch so manches. Auf die Klarinette bin ich nach Antoinettes Ermordung natürlich als Erstes gekommen. Dieses auffällige Lila – ich habe sie bis auf die letzte Taste demontiert, ohne etwas dabei zu finden.«
»So?« Paul kam sich lächerlich vor.
»Gehen wir wieder rüber«, schlug Hannah vor. »Antoinette war eben einfach nur ein Mädchen, das Pech gehabt hat.«
Das klingt ebenso traurig wie wahr, dachte Paul deprimiert.
»Möchten Sie noch einen Kaffee?«, bot sie freundlich an.
»Nein, nein«, wehrte Paul mühsam lächelnd ab. »Das wäre dann heute früh schon der dritte.« Er ging in den Flur. Er hatte angesichts der nach wie vor hohen Temperaturen keine Jacke dabei, dennoch fiel sein Blick auf den Garderobenständer unmittelbar neben der Wohnungstür.
»Sind das deine Sachen, die dort an den Haken hängen?«, erkundigte er sich beiläufig.
»Ja«, sagte Hannah. »Das heißt: Die braune Lederjacke gehörte Antoinette. Ich muss sie noch zu den anderen Sachen in ihren Koffer legen.«
Paul näherte sich der Jacke und nahm sie behutsam vom Haken. »Feines Leder«, sagte er prüfend. »Hast du schon in den Taschen nachgesehen?«
Hannah sah ihn mitleidig an. »Selbstverständlich habe ich das. Ich habe sogar das Innenfutter abgetastet – nur zum Zerschneiden konnte ich mich nicht durchringen.«
Paul resignierte. Es hatte wohl wirklich keinen Sinn, länger einem Hirngespinst nachzujagen. Mit kaum unterdrücktem Bedauern reichte er Hannah die Hand und dankte ihr für den Kaffee.
Als er die Wohnungstür öffnete, stolperte er fast über einen Stapel Post, der auf der Schwelle lag. Er bückte sich danach.
Hannah erschien ebenfalls an der Tür. »Ach, das war wieder mein überkorrekter Nachbar. Er kann es nicht leiden, wenn mein Briefkasten überquillt, und bringt dann die Post für mich mit nach oben.«
Paul wollte Hannah die Sachen in die Hand drücken, als sein Blick auf das Absenderfeld eines Briefes fiel.
»Haben Sie etwas entdeckt?«, fragte Hannah, weil Paul so augenfällig innehielt.
»Ich glaube, ja«, sagte er und zog den schmalen Umschlag langsam hervor. Es handelte sich um einen Retourbrief mit dem Vermerk, dass er unzureichend frankiert war. Die Absenderin war Antoinette!
»Er ist an ihre Heimat adressiert«, stellte Paul voll innerer Anspannung fest, »an eine Adresse in Grimaud.«
»Ja«, bestätigte Hannah. »Wahrscheinlich an jemanden aus ihrer Familie.«
Paul sah sie mit fester Entschlossenheit an. »Wir müssen den Brief öffnen.«
»Sollte ich nicht besser meiner Mutter Bescheid sagen?«, fragte Hannah.
Paul honorierte zwar Hannahs unerwartete Korrektheit gegenüber den
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