Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Sandkästen in Verbindung. Doch was er vorfand, waren zuvorkommende Bewohner einer zwar riesigen, aber gut gepflegten und keineswegs anonymen Wohnanlage.
Die Fahrstuhltür öffnete sich in der dreiundzwanzigsten Etage und gab den Blick auf einen schlichten, schmalen Flur frei. Paul schaute aus einem der Fenster hinaus. Die Aussicht war fantastisch. Nürnberg lag ihm zu Füßen wie eine filigrane Spielzeugstadt. Er sah die Altstadt mit der markanten Silhouette der Kaiserburg und den klobigen runden Stadtmauertürmen. Zwischen den roten Dachschindeln mäanderte glitzernd die Pegnitz. Als er seinen Blick nach links wandte, stach der steil aufragende Business Tower der Nürnberger Versicherungsgruppe aus der ansonsten unspektakulär niedrigen Bebauung heraus. Noch weiter hinten – vom Dunst fast verhüllt – tauchten das gigantische Rumpfgebäude der nie fertig gestellten Kongresshalle und die anderen Stein gewordenen Hinterlassenschaften aus der Zeit der Reichsparteitage auf.
Neben der Klingel standen noch die Namen beider Mädchen. Hannah hatte es offensichtlich nicht übers Herz gebracht, Antoinette gänzlich aus ihrem Leben zu tilgen. Paul drückte den Klingelknopf.
»Hallo«, sagte Hannah. Sie trug ein ausgewaschenes T-Shirt mit einem klein geschriebenen Schriftzug quer über der Brust und knappe, ausgefranste Jeansshorts. Ihr Haar war ziemlich strubbelig. »Kommen Sie rein. Ich habe uns Kaffee gemacht.«
Die Wohnung entsprach ziemlich genau Pauls Erwartungen – wenigstens musste er sich diesmal nicht korrigieren: simple, praktische Einrichtung, die wohl hauptsächlich von Ikea stammte, zwei Schreibtische voll mit Büchern und Regale mit Aktenordnern in griffbereiter Nähe. Ein paar Topfpflanzen, eine stilvoll zerknitterte gelbliche Gardine, die Wände zart rosa getüncht.
Hannah drückte Paul einen Kaffeebecher in die Hand.
»Danke«, sagte er. Automatisch schaute er noch einmal auf ihr T-Shirt und beugte sich vor, um die Schrift darauf zu entziffern: Wer das lesen kann, ist mir eindeutig zu nah, entzifferte er und blickte verdutzt auf.
Hannah grinste ihn vielsagend an. »Darauf fallen alle rein.«
»Dann pass gut auf, dass das T-Shirt bei der nächsten Wäsche nicht einläuft. Wenn die Buchstaben noch kleiner werden, wird es brenzlig.«
Paul war froh, dass es zu diesem seichten Auftakt gekommen war und er erst einmal mit Hannah flachsen konnte, bevor er das unvermeidliche Thema anschneiden musste.
Er trank seinen Kaffee aus. »Vielleicht hast du es dir schon denken können: Ich bin wegen Antoinette hier.«
Prompt entglitten Hannahs Gesichtszüge, und Paul befürchtete, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Doch sie fing sich wieder, und Paul berichtete ihr – ohne Blohfeld direkt ins Spiel zu bringen – von den bisherigen Ermittlungen und seinem Verdacht, dass Antoinette womöglich etwas recherchiert hatte, das sie letztendlich das Leben kostete.
»Es ist nur eine leise Ahnung: Womöglich kannte sie ihren Mörder«, wand sich Paul, dem die Argumentation mangels stichhaltiger Beweise schwerfiel. »Ich würde gern ihr Zimmer sehen.«
»Die Polizei hat schon alles auf den Kopf gestellt«, entgegnete Hannah.
»Vielleicht haben sie ja etwas übersehen«, versuchte Paul sie umzustimmen.
Hannah pustete sich einige Löckchen aus dem Gesicht. Ihre knallblauen Augen tasteten ihn unsicher ab. »Ehrlich gesagt war ich selbst so neugierig und habe ein bisschen geschnüffelt.«
»Und?«, fragte Paul. »Etwas gefunden?«
»Nix. Überhaupt nichts.«
»Trotzdem«, sagte Paul entschlossen. »Lass uns noch einmal nachsehen. Mit etwas Glück stoßen wir auf irgendeinen Hinweis, der uns weiterhelfen kann.«
Hannah führte ihn widerstrebend in einen kleinen quadratischen Raum mit Fenster in Richtung Norden. Paul meinte, noch den Hauch eines Parfums wahrnehmen zu können. Die Einrichtung war auch hier schlicht, jedoch hatte sich Antoinette mit einigen Erinnerungsstücken an ihre Heimat umgeben. Ein mit groben Strichen und viel Farbe gepinseltes Ölbild an der Wand stellte eine südländische Straßencafészene dar, die Tagesdecke über ihrem Bett war ockergelb und mit aufgedruckten Olivenhainen verziert, eine pastellfarbene Bootsplanke mit Antoinettes Namen hing über dem Kopfende. Paul trat an das Fenster und hatte freie Sicht bis zum Flughafen. Eine große Passagiermaschine setzte gerade zur Landung an, und er fragte sich, ob Antoinette bei diesem Ausblick wohl manchmal an den Rückflug nach Frankreich gedacht
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