Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Ermittlungsbehörden – und vor allem gegenüber ihrer Mutter –, schüttelte jedoch den Kopf. Er wollte kein Risiko eingehen. Der Brief konnte Hinweise auf Blohfeld enthalten und ihn entlasten. Andererseits konnte aber auch das genaue Gegenteil passieren und Blohfeld durch den Brief noch tiefer in die Affäre gezogen werden.
Paul fackelte nicht lange, steckte seinen Zeigefinger in den Falz des Kuverts und riss es auf. Er entfaltete unter dem erwartungsvollen Blick Hannahs einen mehrseitigen Brief.
Paul wollte mit dem Vorlesen beginnen, als ihm klar wurde, dass er kein einziges Wort verstand.
»Können Sie etwa kein Französisch?«, fragte Hannah gleichermaßen verstört wie enttäuscht.
Paul sah von dem Brief auf. »Ich bin alter Lateiner. Mag sein, dass mir das hilft, wenn ich die Inschriften auf verfallenen römischen Tempeln entziffern soll. Aber momentan bin ich – ehrlich gesagt – mit meinem Latein am Ende.«
»Geben Sie mal her«, sagte Hannah bestimmt und schnappte sich die eng beschriebenen Papierbögen. Sie hielt sie dicht vor ihr Gesicht. »Eine ziemliche Sauklaue.«
»Kannst du etwas davon verstehen?«, fragte Paul, der ein nervöses Prickeln in sich aufsteigen spürte.
Hannah gab ihm den Brief schulterzuckend zurück. »Nicht die Bohne: Ich kann auch kein Französisch.«
»Was?« Paul war verblüfft. »Hast du etwa auch Latein gewählt?«
»Gewählt würde ich das nicht nennen. Mama hat mich genötigt. Sie hat wohl erwartet, dass ich irgendwann einmal Jura studieren werde so wie sie, und da ist Latein ja obligatorisch.«
Paul nickte enttäuscht und faltete die Blätter zusammen. Er überredete Hannah dazu, den Brief mitnehmen zu dürfen. Er würde einen Übersetzer finden müssen – einen vertrauenswürdigen noch dazu.
30
Der Erste, der ihm einfiel, war Jan-Patrick. Gute Köche sind von Berufs wegen frankophil, dachte sich Paul, als er wieder in der Straßenbahn saß – den Brief in seinen von Wärme und Aufregung feuchten Händen. Ja, ganz sicher würde er Französisch können, selbst wenn es nur ein paar Brocken waren.
Paul stieg am Plärrer um; danach hatte er es nicht weit bis nach Hause zum Weinmarkt und damit zu Jan-Patricks Lokal. Die Tür des Goldenen Ritters stand weit offen. »Nur herein!«, begrüßte ihn charmant Marlen und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange. »Er ist hinten in der Küche«, sagte sie gut gelaunt.
Paul verzichtete auf einen Smalltalk mit der Kellnerin und ging direkt weiter ins Herz des Lokals, wo Jan-Patrick, in voller Kochmontur, in seine Arbeit vertieft war. Er hantierte ebenso flink wie geschickt mit allerlei Küchengeräten und Zutaten. Es roch köstlich in der schmalen Küche.
Paul trat näher und sah, wie der Küchenmeister mit geübten Bewegungen einen hauchfeinen Blätterteig ausrollte und ihn anschließend auf einem großen Backblech auslegte.
»Hallo, Meister«, grüßte ihn Paul.
»Hallo«, sagte der Koch ohne aufzusehen.
Paul spürte, dass sein Freund im Moment keine Zeit hatte, und musste für sein Anliegen wohl oder übel noch ein wenig Geduld aufbringen. Er beobachtete fasziniert, mit welch eleganter Leichtigkeit Jan-Patrick den Teig mit einer gleichmäßigen Schicht Semmelbrösel überzog. Dann wandte sich der Koch einer Edelstahlschüssel mit Bratwurstgehäck zu und begann, es mit feinen Prisen verschiedener Gewürze abzuschmecken.
»Bastelst du wieder an einer deiner erlesenen Bratwurstkreationen?«
»Ach was«, tat der Koch seinen Einwurf ab. »Da ist nichts Erlesenes dran.« Er zerrieb getrocknete Kräuter zwischen seinen Fingerspitzen und gab sie in winzigen Mengen zu dem Fleisch. »Was ich vermitteln möchte, ist lediglich ein Bewusstsein für gutes Leben durch gutes Essen, und ich spreche eben gerade nicht von Luxus. Nicht von Kaviar, Hummer, Gänseleber, Trüffel – das alles kommt nicht auf meine neue Karte. Ich möchte den Leuten zeigen, dass ein schlichtes Bratwurstgericht, mit Liebe gemacht, ebenfalls Genuss bringen kann, dass es das Leben verschönert.«
Paul deutete auf die restlichen Kräuter, die Jan-Patrick auf seiner Arbeitsplatte ausgebreitet hatte. »Ich nehme trotzdem nicht an, dass die aus dem Supermarkt stammen.«
»So weit kommt’s noch«, sagte Jan-Patrick abfällig. »Schmeiß die Supermarktkräuter aus dem Fenster. Kauf dir im Frühjahr ein Stöckchen Rosmarin für zwei oder drei Euro, pflege es auf der Fensterbank, dann hast du das ganze Jahr über das volle Aroma.«
»Aber mach es nicht so
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