Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
niedergeschlagen.
»Nö«, sagte Jan-Patrick selbstbewusst. »Freiwilliger Abgänger nach der Neunten. Ich habe mich nie mit irgendwelchen unnötigen Fremdsprachen herumgeschlagen.« Dann bedachte er Paul mit einem fürsorglichen Blick und schlug vor: »Die Sache mit dem armen Mädchen belastet dich wohl ziemlich? Was hältst du davon, wenn wir Marlen hinzuziehen und sie den Brief übersetzen lassen?«
Tatsächlich haderte Paul für einige Augenblicke mit sich und zog Jan-Patricks Vorschlag in Erwägung. Aber dann wurde ihm klar, dass er den Kreis der Eingeweihten so klein wie möglich halten musste – schließlich hatte er ein wichtiges Beweismittel unterschlagen und handelte momentan absolut eigenmächtig.
»Nein, lieber nicht«, schlug er die Offerte seines Freundes aus.
»Ich verstehe«, sagte Jan-Patrick nachdenklich. Dann streckte er seine Hand nach dem Papier aus. »Lass mal schauen. Vielleicht kann ich ja wenigstens das ein oder andere Wort übersetzen. Viel wird es aber nicht sein.«
Sein Freund hielt die inzwischen reichlich zerknitterten Zettel dicht vor sein Gesicht; beinahe hätte seine große Rübennase das Papier berührt. »Mmm – das Mädchen hätte bestimmt keinen Schönschreibwettbewerb gewonnen.«
»Kannst du etwas davon entziffern?«
»Geduld, Geduld«, bremste der Koch seine Erwartungen und fügte spitz hinzu: »Ich dachte immer, wenn man Latein gelernt hat, kann man jede romanische Sprache ganz leicht verstehen – scheint wohl nicht weit her zu sein mit dieser Weisheit.«
»Übersetz bitte, wenn du auf ein Wort stößt, das du kennst«, drängte Paul.
»Ja, ja, mach ich.« Abermals vertiefte sich der Küchenmeister in die zierliche, geschwungene Handschrift. »Es ist wirklich nicht einfach … Moment … hier: saucisse à rôtir – das heißt Bratwurst.« Jan-Patrick sah auf. »Hilft dir das?«
Paul legte die Stirn in Falten. »In einem in Nürnberg verfassten Brief wird das Wort Würstchen erwähnt – das ist nicht gerade ungewöhnlich.« Doch dann dachte er an Antoinettes Zeitungsrecherchen bei den Wiesingers. »Taucht das Wort öfter auf?«
Jan-Patrick fuhr mit den Fingern über die Zeilen und nickte.
»Ja, mehrmals. Deine Bekannte muss sich ausschließlich von Nürnberger Rostbratwürstchen ernährt haben.«
»Kannst du sonst noch etwas übersetzen?«
»Mmm, nein … nein, wirklich … das heißt: Ja, dieses Wort kenne ich auch: père. Das heißt, glaube ich, Vater.«
»Vater?«
»Ja«, bestätigte Jan-Patrick. »Vielleicht war der Brief an ihren Vater adressiert?«
Paul sah auf den Briefumschlag, doch dort war eindeutig ein Frauenname angegeben. »Bist du sicher, dass père Vater heißt?«
»Ja, ziemlich sicher. Kannst du damit etwas anfangen?«
Paul sah den Koch ratlos an. »Nein, ehrlich gesagt, kann ich das nicht.«
Die Würstchenpastete verbreitete einen appetitlichen Duft in der kleinen Küche, und Paul beschloss schweren Herzens, lieber schnell das Weite zu suchen, ehe er sich tatsächlich von Jan-Patricks Kochkünsten verführen lassen würde. Denn für ein weiteres Mahl bei seinem Freund fehlte ihm einfach die notwendige Muße.
»Wenn du mal eine ganz dumme Frage erlaubst«, setzte Jan-Patrick an und legte ihm vertraulich den Arm um die Schulter. »Warum schnappst du dir nicht ein Wörterbuch und schlägst die Wörter selbst nach?«
»Weißt du, wie lange das dauern würde?«, hielt Paul dem entgegen.
»Sicher nicht länger, als hier mit mir herumzustehen und halbgare Vermutungen anzustellen.«
Paul musste seinem Freund widerstrebend zustimmen.
»Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben – aber nur, wenn sich wirklich kein anderer Weg findet.«
»Da du ohnehin schon so viel Zeit verloren hast: Wie wäre es mit einer weiteren Bratwurstgeschichte zum Abschied?«, schlug Jan-Patrick lächelnd vor, als sich Paul verabschieden wollte.
»Welche sollte das denn sein?«, fragte Paul amüsiert.
»Eine neue Variante der Sieben-Zentimeter-Story«, sagte der Küchenmeister. »Warum ist die Nürnberger Rostbratwurst so kurz, wie sie ist?«
Paul winkte ab. »Ich muss inzwischen doch sämtliche Versionen dieser Story kennen.«
»Aber nicht die bei weitem skurrilste«, gab sich der Koch geheimnistuerisch. »Sie hat etwas mit unserem Stadtheiligen zu tun«, deutete er an.
»Also?«
»Ich verrate es dir nur, wenn du zum Essen bleibst.«
»Dann muss ich leider passen«, sagte Paul. Er steckte Antoinettes Brief ein und verließ den Goldenen
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