Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Herr Schrader?«, fragte Paul, wusste aber schon, während er sprach, dass der Polier ihn geleimt hatte.
Paul beeilte sich, einen Ausweg zu suchen. Er ahnte, dass sein Gegenüber nichts Gutes im Sinn hatte. Wegzulaufen hatte keinen Zweck, denn der Pfad auf dem Wandscheitel war viel zu schmal, um an dem Hünen vorbeizukommen. Und die Folgen eines Sprungs wären gar nicht auszudenken . . .
Zu spät! Der Kapo hatte Paul bereits am Kragen gepackt. Er hob ihn wie ein Kind in die Höhe, so dass Pauls Beine im Freien strampelten.
»Was wollen Sie von mir?«, brüllte Paul ihn an.
Dem Polier schien es keine Mühe zu machen, sich mit Paul im Würgegriff fortzubewegen. Er ging bis an den Rand der Schalung und streckte seine Arme aus.
Paul bemerkte entsetzt, dass er direkt über dem frischen, noch flüssigen Beton schwebte. »Sind Sie verrückt geworden, Mann?«, schrie er. »Was soll der Wahnsinn?«
Der Polier ließ Paul noch einige Momente zappeln, bevor er sagte: »Ich wollte Ihnen nur zeigen, was wir von euch Quertreibern halten. Wir haben nicht besonders viel übrig für die Altstadtfreunde.«
»Aber ich gehöre überhaupt nicht zu diesem Verein!«, protestierte Paul lautstark.
»Nein?« Der Kapo verzog keine Miene. »Und warum haben Sie dann vorhin mit den anderen Verrückten unsere Arbeit blockiert und Plakate mit bekloppten Sprüchen geschwenkt?«
»Ich war rein zufällig dabei. Wirklich, ich versichere Ihnen: Ich bin kein Mitglied der Altstadtfreunde!«
Für Paul war seine Position über dem Beton die reinste Folter: Er malte sich das Schlimmste aus, bis der Kraftprotz ihn endlich zurück auf die Wand hob und seinen Griff lockerte.
»Danke«, sagte Paul nach Atem ringend, »es war einfach nur ein Missverständnis.«
»Es soll Ihnen eine Lehre gewesen sein«, sagte der Polier. Er zeigte das erste Mal eine Art Lächeln. Dann streckte er Zeige – und Mittelfinger der rechten Hand aus und legte sie auf Pauls Brust.
»Was . . .?« Mehr war Paul nicht imstande zu fragen, denn im nächsten Augenblick drückte ihn* der Kapo nach hinten. Paul stolperte über seine eigenen Füße und verlor das Gleichgewicht. Im Stürzen merkte er noch, dass ihm der Polier mit dem Fuß eine grobe Kurskorrektur in Richtung Pegnitz verpasste – dann gab es keinen Halt mehr.
29
Keuchend und vor Kälte zitternd zog sich Paul ans Ufer der Liebesinsel. Er schlotterte am ganzen Leib und hatte keine Kraft mehr, sich aufzusetzen. Todesangst steckte ihm noch in den Gliedern, und sein Herz raste.
Schnell fanden die ersten Passanten den Weg die schmale Treppe zur Liebesinsel herab. Ein junger Mann zog seine Jacke aus und wollte sie Paul über die Schultern legen.
»Danke.« Paul rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Ich hätte aber lieber Ihr Handy – mein eigenes funktioniert nicht mehr.«
Der Mann nickte hilfsbereit und gab ihm Jacke und Telefon. Paul zog Ersteres über seiner Brust zusammen und tippte in Letzteres mit klammen Fingern Katinkas Handynummer.
»Hallo, Katinka, ich bin’s«, sagte er mit klappernden Zähnen. »Hast du Zeit? Ich muss dich dringend sprechen.«
»Was ist los mit dir? Du klingst so seltsam.«
Paul bibberte. »Ich bin gerade baden gegangen und zwar nicht freiwillig.«
»Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Das ist jetzt auch egal. Viel wichtiger ist es, dass wir uns treffen. Ich habe dir etwas wirklich Wichtiges zu sagen.«
»Dann schieß los!«
»Nicht am Telefon.«
»Paul. . .«, Katinka stockte, »wir können uns nicht treffen.«
»Warum denn nicht?«
»Ich bin nicht in Nürnberg. Du hast mich hier in Berlin erwischt.«
»Berlin?«, fragte Paul entgeistert.
»Ja, ich wusste nicht, ob ich dir Bescheid geben sollte, ich meine, in Anbetracht unserer Lage. Ich schaue mir ein paar Wohnungen an. Nur für den Fall, dass . . .«
»Ich verstehe schon«, schnitt Paul ihr das Wort ab.
»Deine wichtige Mitteilung muss also bis Montag warten. Am besten, du kommst gleich in der Früh in meinem Büro vorbei. – Worum handelt es sich eigentlich?«
Paul wurde von einem neuen Kälteschub geschüttelt. Er konnte kaum noch sprechen: »Ich weiß jetzt . . .«, stammelte er, ». . . ich weiß, wer der Mörder ist.«
30
»Der Fall Hauser: Der › Badische Prinz ‹ gab selbst die ersten Hinweise auf seinen Mörder«, las Paul und rückte ein Stück von seinem Sitznachbarn ab, um die Montagsausgabe von Blohfelds Zeitung vollständig aufschlagen zu können, während die U-Bahn mit kreischenden Rädern in eine Kurve
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