Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
ihre Stärke geglaubt«, wusste auch Paul.
Der Pfarrer stimmte zu. »Im neunzehnten Jahrhundert wollte Napoleon sie haben, aber er hat sie nicht bekommen.«
»Dafür aber Hitler«, entgegnete Paul. »Der hat sie 1938 nach dem Anschluss Österreichs nach Nürnberg geholt. › Heim ins Reich ‹ .«
Fink sah ihn nachdenklich an. »Stimmt, weil nach Auflösung des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 1806, als der letzte Kaiser Franz II. abdankte, der deutsche Kronschatz in Wien geblieben war. Erst nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kehrte er zurück. Der damalige Oberbürgermeister Willy Liebel war eine der treibenden Kräfte. Er ließ die Reichsinsignien in einem geheimen Sonderzug von Wien nach Nürnberg transportieren. Hier wurden sie dann in der Katharinenkirche präsentiert – leider nicht bei uns in St. Sebald.«
»Dann hätte sich dein Vorgänger nur damit herumschlagen müssen, sie im Krieg vor den Bombenangriffen in Sicherheit zu bringen«, warf Paul ein.
»Dafür haben schon andere gesorgt«, winkte Fink ab. »Im Februar 1940 brachte man die kaiserlichen Machtinsignien – wie viele andere Kunstschätze auch – in den Kunstbunker an der Oberen Schmiedgasse.«
»Also in meine unmittelbare Nachbarschaft am Burgberg«, meinte Paul.
Der Pfarrer bestätigte das. »Doch nach Kriegsende waren sie plötzlich verschwunden. Die US-Militärbehörden hatten ihre liebe Not damit, sie wieder aufzuspüren. Das ist eine sensationelle Geschichte, die reinste Detektivstory.«
»Erzähl mehr«, forderte ihn Paul auf.
»Sherlock Holmes war in diesem Fall ein deutschstämmiger Amerikaner, Walter Horn, ein Offizier, der hier Kunstgeschichte studiert hatte. Er kam nach einigen Irrwegen darauf, dass die Reichskrone mitsamt den anderen Bestandteilen des Schatzes im Luftschutzbunker am Paniersplatz eingemauert worden war. Zwei Oberbauräte, der Luftschutzdezernent, sogar der Oberbürgermeister selbst hatten angeblich hinter dieser Finte gesteckt. Andere vermuteten eine NS-Widerstandsbewegung hinter dem Täuschungsmanöver. Ganz aufgeklärt ist die Sache aber bis heute nicht.«
»Das Schicksal der Reichskleinodien aber sehr wohl«, vollendete Paul.
»Ja«, sagte Fink. »Die Stadt Nürnberg bemühte sich nach dem Krieg darum, sie hier zu halten. Doch die Amerikaner sahen darin Objekte mit politischer und ideologischer Symbolkraft, die nicht in einer für die Nazis so wichtigen Stadt bleiben durften. Der alliierte Kontrollrat in Berlin beschloss daraufhin die Rückgabe der Reichskleinodien an Wien.«
»Ja.« Paul gab sich grüblerisch. »Nun sind sie zwar noch einmal nach Nürnberg zurückgekehrt, aber das Geheimnis ihrer Kraft ist bis heute nicht geklärt.«
»Das ist auch gut so«, sagte Fink in festem Ton. »Es gibt Rätsel, die ungelöst bleiben sollten.«
»Wie meinst du das?«, wollte Paul wissen.
Finks große braune Augen traten vor Anspannung hervor. »So, wie ich es sage. Die Reichskleinodien und speziell die Heilige Lanze sind im Laufe ihrer wechselvollen Geschichte durch viel zu viele Hände gegangen. Jeder wollte ihr ihre Geheimnisse entlocken, sie für seine Zwecke nutzen, oft auch missbrauchen. Die Heilige Lanze ist Bestandteil heidnischer Verehrung und grotesker Mythen geworden. Das hat sie nicht verdient.« Er holte tief Luft und sagte dann voll Inbrunst: »Wenn ich eine Gelegenheit hätte, an die Heilige Lanze zu gelangen und sie zu schützen, würde ich sie nutzen. Im Sinne der Kirche.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Paul irritiert.
»Die Heilige Lanze hat nach allem, was sie durchgemacht hat, endlich einen ruhigen Platz verdient. Einen behüteten Ehrenplatz an ihrem angestammten Ort. Es geht mir nicht um die Reliquie an sich, aber um ihre Bedeutung. Um die Heilige Lanze für die Kirche zu sichern, würde ich einiges tun.« Die vollen Wangen des Geistlichen glühten.
»Auch töten?«, provozierte ihn Paul.
Fink sah ihn zunächst verblüfft, dann nachdenklich an. »Ganz sicher nicht. Aber die Heilige Lanze bedeutet für uns – gerade in Nürnberg – sehr viel. Ich freue mich auf diese Ausstellung im Alten Rathaus. Die Lanze endlich einmal im Original zu sehen! Und von Nahem!«
Ja, pflichtete Paul ihm im Stillen bei. Auch er wollte die Lanze gern sehen. Sein evangelischer Pfarrersfreund aber spekulierte insgeheim wohl darauf, die sagenumwobene Ausstrahlung und sakrale Kraft der Reliquie wenigstens einmal im Leben am eigenen Leib zu spüren . . .
11
Es dämmerte bereits, als er
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