Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
die Kirche wieder verließ. Die Einladung von Fink, ihn noch auf einen Happen Landbrot mit Obatztem, frisch vom Hauptmarkt, ins Pfarrhaus zu begleiten, lehnte Paul dankend ab. Er wollte jetzt lieber allein sein, um das Gehörte in Ruhe auf sich wirken zu lassen.
Als er wenig später in der Küchenzeile seines Lofts stand, war er unschlüssig, ob er sich ein Bier oder ein Glas Wein einschenken sollte. Stattdessen stellte er dann den Kaffeeautomaten an und schäumte Milch für einen Cappuccino auf.
Durch das Koffein gestärkt, setzte er sich vor seinen Computer. Nach dem Gespräch mit Pfarrer Fink hatte sich der vage Verdacht in ihm verfestigt, dass der scheinbar sinnlose Tod des Models vielleicht einen ganz anderen Hintergrund hatte als vermutet. Kein Lustmord, durch Paul oder einen anderen begangen, sondern womöglich nur Mittel zum Zweck.
Mittel zum Zweck, sinnierte Paul, während der Computer langsam hochfuhr. Doch zu welchem Zweck? Die zeitliche Nähe der beiden Ereignisse Mord und Ausstellungseröffnung war auffällig, aber da blieb trotzdem die Tatsache, dass zum Zeitpunkt der Tat noch kein einziges Ausstellungsstück an Ort und Stelle gewesen war. Es gab also in der Umgebung des Lochgefängnisses nichts zu stehlen, womit die aus Pauls Sicht einzige plausible Erklärung für die Gewalttat ausschied: nämlich die, dass das Model einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt hatte und deshalb zum Schweigen gebracht worden war.
Nein, nein, nein! Die winzigen Mosaiksteinchen seiner Vermutungen ließen sich noch längst nicht zu einem Bild zusammensetzen. Paul raufte sich die Haare. Fest stand einzig und allein, dass er der Buhmann war. Denn nur er hatte ja ein überzeugendes Motiv für die Tat: Ob nun gekränkte Eitelkeit, weil ihm das Model eine Abfuhr verpasst hatte, oder überbordende Leidenschaft, letztlich war es egal. Alles, was die Polizei noch brauchte, um ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen, war ein Zeuge, der Paul und das Mädchen nachts vor dem Rathaus gesehen hatte. Da konnte er sich noch so sehr das Hirn zermartern: Am Ende blieb Paul allein der Sündenbock.
Sündenbock – wieder war es ein Stichwort, das bei Paul einen neuen Gedankengang auslöste: Wenn er ein Sündenbock war, würde das bedeuten, dass er gerade für jemand anderen den Kopf hinhielt. Vielleicht wurde er nur benutzt, dachte Paul mit einem Funken neuer Hoffnung auf die baldige Lösung dieses Rätsels.
Diese Idee hatte durchaus etwas für sich. Zur Zeit war Paul ja tatsächlich der einzige Verdächtige weit und breit. Ein möglicher Strippenzieher konnte sich im Hintergrund halten und in aller Ruhe abwarten, wie sich die Schlinge um Pauls Hals enger zusammenzog.
Aber wer sollte dieser Strippenzieher sein? Und welchen Vorteil hatte dieser große Unbekannte vom Tod des Models? Paul rieb sich die Stirn, doch der Knoten in seinen Gedanken wollte sich nicht lösen.
Er musste einsehen, dass seine Spekulationen zu nichts führen würden, solange ihm die Fakten fehlten. Paul wusste ganz einfach zu wenig, um in diesem verwirrenden Konstrukt ein Muster erkennen zu können.
Die einzige Wissenslücke, die er mit seinen eigenen, ziemlich bescheidenen Mitteln füllen konnte, betraf im Moment eigentlich die Reichskleinodien. Denn über sie gab es genügend Material, das frei zur Verfügung stand. »Ich drehe mich im Kreis«, sagte Paul zu sich selbst. Doch dann gab er sich einen Ruck und begab sich im Internet auf die Suche nach weiteren Details über die Ausstellung.
Über Google gelangte er auf mehrere offizielle Seiten mit ausführlichen Hintergrundinformationen über die Reichskleinodien, dann sehr schnell auch auf private Einträge, meistens mit recht konspirativem Inhalt. Bald schälte sich die Heilige Lanze als zentrales Stück der Sammlung heraus. Paul studierte die Berichte von Historikern und Laien sehr genau und stellte fest, dass die Lanze – ähnlich wie Fink es bereits beschrieben hatte – im Laufe ihrer Geschichte wie ein Staffelholz herumgereicht worden war.
Bemerkenswert fand Paul eine frühe Episode, die um Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, kreiste: Die unternehmungslustige Frau reiste demnach selbst ins Heilige Land, um nach Reliquien des Messias zu suchen. Sie fand das Kreuz von Golgatha, oder wenigstens seine Überreste samt Nägeln. Sie ließ die Eisendorne in die Rüstung ihres Sohnes einsetzen, einige aber auch in die Lanze, die Konstantin seither als Zeichen seiner Stärke bei sich trug. 324 gründete er die
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