Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
machen, dachte nun auch Paul.
Er gab der Haustür mit der Schuhspitze einen Tritt und nestelte gleichzeitig an seinem Schlüsselbund, um den Briefkastenschlüssel zu finden. Er öffnete die dünne Blechtür des Kastens, aus dem ihm ein Wust von Reklamedrucken und Wurfzeitungen entgegenfiel. Irgendwann, dachte er sich, müsste er endlich mal einen Aufkleber »Keine Werbung einwerfen« anbringen. Aber das gehörte zu den Dingen, die man sich stets vornahm und dann doch nie erledigte.
Ganz am Boden des Briefkastens lag ein Kuvert. Paul hätte es beinahe übersehen. Es war schlicht und weiß und trug als Anschrift lediglich Pauls Namen. Die Adresse fehlte. Offenbar hatte der Absender den Brief persönlich bei ihm eingesteckt.
Neugierig geworden riss Paul den Umschlag auf. Er zog einen säuberlich gefalteten DIN-A 4-Bogen heraus, faltete ihn auseinander – und erstarrte.
»MÖRDER!«, stand in großen Lettern auf dem weißen Papier geschrieben.
»Mörder«, las Paul ein zweites Mal, wobei sich seine Kehle wie ausgetrocknet anfühlte.
Mörder – wer hatte das geschrieben? Und vor allem: Was bezweckte derjenige damit? Instinktiv steckte Paul den Brief in seine Jackentasche und sah sich sorgenvoll um.
Der Hausflur war leer. Niemand hatte seine erschreckte Reaktion mitbekommen. Seine Nachbarn wussten hoffentlich von nichts und sollten es auch nicht erfahren. Oder aber . . . – Paul fuhr ein kalter Schauder den Rücken herunter: Oder war es sogar einer seiner Nachbarn gewesen, der den Brief verfasst hatte?
Paul fühlte sich hundeelend und war tief betroffen. Auf eine solch gemeine Art und Weise war er niemals zuvor angegriffen worden. Anonyme Briefe zu schreiben, war so ziemlich das Übelste, das Paul sich vorstellen konnte. Doch viel schlimmer für ihn blieb die schreckliche Ungewissheit, ob er vielleicht tatsächlich ein Mörder war.
Paul stützte sich an der Flurwand ab und atmete mehrmals tief ein und aus. Er brauchte Hilfe; mehr noch brauchte er jetzt Beistand. Glücklicherweise wusste Paul, wo er letzteren finden konnte.
10
Wer nicht wusste, dass Hannes Fink Pfarrer war, hätte ihn in diesem Aufzug sicherlich für einen Handwerker gehalten. Paul musste – trotz seiner prekären Lage – unwillkürlich schmunzeln, als er den beleibten Geistlichen in einem ziemlich schmutzigen Blaumann vorm Hauptportal der St.-Sebald-Kirche antraf.
»Bist du unter die Heimwerker gegangen?«, grüßte ihn Paul.
Fink schüttelte den Kopf, wobei sein zum Pferdeschwanz gebundenes schwarzgraues Haar munter hin – und herpendelte. »Nein, aber manchmal komme ich mir wirklich mehr wie ein Bausachverständiger vor als wie ein Prediger. Das Kirchengebäude ist in einem Zustand . . .«
»Wieso?«, erkundigte sich Paul. »Schwanken die Glockentürme etwa immer noch?«
»Frag nicht«, sagte Fink und hakte Paul unter. »Unsere Architektin legt mir jeden Tag neue Statikberichte auf den Tisch. Man könnte Kopfschmerzen davon bekommen. Ich kann nur hoffen, dass die Nürnberger weiter fleißig für ihre Sebalduskirche spenden – die Instandhaltungskosten sind kaum zu decken.« Der Pfarrer zwinkerte Paul zu: »Solltest du wohlhabende Bekannte anderer Konfessionen haben, sag ihnen: Wir nehmen auch Geld von Katholiken und anderen Ketzern.«
Paul hob bemüht seine Mundwinkel, woran Fink seine angeschlagene Seelenlage erkannte und das Scherzen sofort einstellte.
Der Pfarrer führte Paul in die Kirche. Sie zogen sich in einen dunklen, kühlen Winkel hinter einem der trutzigen Pfeiler zurück.
»Apropos Katholiken«, nahm Fink das Gespräch wieder auf. »Wenn ich einer von denen wäre, würde ich dich in den Beichtstuhl bitten, so wie du aussiehst. Was, um Himmels willen, hast du ausgefressen?«
Paul sah seinen Freund dankbar an. Hannes Fink schaffte es auf seine ruppige und gleichzeitig menschlich einfühlsame Art immer wieder, das Eis zu brechen und einen zum Reden zu animieren. Paul griff nur allzu gern nach diesem Strohhalm: »Ein Beichtstuhl würde mir im Moment auch nicht weiterhelfen. Ich wüsste nämlich gar nicht, was ich beichten sollte.«
»Warum schaust du dann wie sieben Tage Regenwetter?«
»Weil. . .«, Paul zögerte, »weil ich womöglich etwas Schreckliches getan habe und mich nicht daran erinnere.«
Paul erzählte dem Pfarrer die ganze Geschichte. Dieser hörte aufmerksam zu, seine Miene aber verriet, dass er Mühe hatte, seinem alten Freund den Gedächtnisverlust abzukaufen. Paul erkannte sehr wohl die Zweifel im
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