Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
später nach ihm benannte Hauptstadt, Konstantinopel, das heutige Istanbul, und berief sich darauf, sein riesiges Reich allein mit der Kraft der Heiligen Lanze errichtet zu haben.
Paul übersprang die Jahre, in denen die Heilige Lanze keine nennenswerte Rolle in der Geschichtsschreibung gespielt hatte. Dann führte ihn seine Internetrecherche zu Karl dem Großen: Am 24. Dezember 800 ließ sich Karl von Papst Leo III. in Rom krönen und legte damit den Grundstein für das moderne Europa. Mit nicht weniger als dreiundfünfzig Feldzügen und großem diplomatischen Geschick einte er sein Riesenreich – und hatte dabei stets eine Verbündete mit starker Ausstrahlung an seiner Seite: die Heilige Lanze. Sie untermauerte seinen Herrschaftsanspruch weit mehr als Krone, Reichsapfel und Zepter.
Paul las interessiert weiter, denn das Internet bestätigte die Ausführungen von Pfarrer Fink auf vielfältige Weise. Nur eines vermisste Paul: den Bezug zu Nürnberg. Ab wann spielte seine Stadt eine Rolle in der Geschichte der Lanze?, fragte er sich.
Wenig später hatte er gefunden, was er suchte. Draußen war es inzwischen stockdunkel, und sein Magen knurrte. Doch das störte Paul nicht, denn auf seinem Bildschirm stand ein ausführlicher Text über den Einzug der Lanze in die damalige Reichsstadt. Paul las gebannt jede Zeile:
1424 war die Lanze nach Nürnberg gekommen. Zur besseren Tarnung und zum Schutz vor Dieben war sie einem ahnungslosen Fischhändler untergeschoben worden. In Nürnberg war die Heilige Lanze hoch willkommen, da der Stadtrat mit einem schwunghaften Reliquiengeschäft rechnete. Tatsächlich setzte schon bald ein lebhafter Handel ein, gewaltige Geldsummen flossen in die Stadtkasse, denn die Pilgerströme wurden ordentlich geschröpft – fürs Essen und Trinken, für ein Quartier und in erster Linie fürs Schauen: Ein Blick auf das sagenumwobene Heiligtum kostete Bares.
Mit Interesse las Paul, dass die Lanze in einem silbernen Schrein in der Heiliggeistkirche aufbewahrt wurde. Zum Schutz vor unberechtigtem Zugriff hing sie unter der Decke des Kirchenschiffs wie in einem schwebenden Tresor und wurde zu den Gottesdiensten mit einem komplizierten Windensystem heruntergelassen.
Höhepunkt der Reliquienverehrung und auch die Zeit des besten Umsatzes für die Nürnberger Kaufmannschaft und den Klerus war das Fest der Heiligen Lanze, jeweils am zweiten Freitag nach Ostern. Auf dem Hauptmarkt wurde eigens eine provisorische Kapelle aus Holz und Tuch errichtet. Im Obergeschoss durfte ein erlauchter Kreis aus Patriziern und Geistlichen eine Ausstellung bedeutender Reliquien mit der Lanze im Mittelpunkt bestaunen, während auf dem Platz darunter die versammelte Masse der einfachen Pilger und Schaulustigen mit Nürnberger Rostbratwürstchen bei Laune gehalten wurde.
Schließlich trat ein Prediger auf die Empore der Zeltkirche und hielt die Lanze ehrfurchtgebietend über die Menge. Paul konnte sich gut vorstellen, was für ein Raunen den Hauptmarkt erfüllt haben musste. Wer nach mehr verlangte, als bloß zu schauen, musste besonders tief in die Tasche greifen. Denn die Heilige Lanze galt als imstande, einen Teil ihrer Kraft weiterzugeben: Kontakt mit der Originalreliquie schuf sogenannte Berührungsreliquien, las Paul voller Verwunderung. Heiliger Wein? Kein Problem: Ein kurzes Eintunken der Lanzenspitze in den Weinkelch genügte. Die Nürnberger Kaufleute konnten im Einvernehmen mit der Kurie dazu beitragen, Seelen zu retten, und gleichzeitig ihre Taschen füllen.
Doch dann erschien ein Spielverderber auf der Spielfläche: Luther und der Siegeszug der Reformation beendeten das Geschäft, las Paul und konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie die Nürnberger darauf reagiert hatten: mit dem typisch ablehnenden Missmut allem Neuen gegenüber. Umso verwunderlicher war es, dass Nürnberg zur ersten freien Reichsstadt des Landes geworden war, die sich reformieren ließ und ihre großen Hauptkirchen im Handstreich auf den neuen Glauben umwidmete. Doch verzichteten die Nürnberger auf den sonst üblichen Bildersturm und ließen die wichtigsten Kunstwerke ihrer Gotteshäuser unversehrt an Ort und Stelle stehen. Auch an ihrem – katholischen – Stadtheiligen St. Sebald hielten sie fest. Ein echter Nürnberger Kompromiss eben, kommentierte Paul im Stillen.
Plötzlich hielt er für einen Moment inne. Er hatte den Eindruck, dass sich jemand vor seiner Wohnungstür aufhielt. Er wartete auf ein Klingeln oder Klopfen. Doch es
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