Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
blieb ruhig. Vielleicht war es bloß ein Nachbar, der nach Hause kam. Paul sah auf die große Uhr in seiner Küchenzeile. Schon zweiundzwanzig Uhr durch. Vor dem Computer verflog die Zeit im Nu.
1796 mussten die Nürnberger ernsthaft um die Heilige Lanze bangen. Napoleon war im Anmarsch – und auch er war wie alle großen Herrscher auf die machtvolle Reliquie aus. Schweren Herzens trennte sich die Stadt von der Lanze und schickte sie auf Umwegen nach Wien, um sie vor den Franzosen in Sicherheit zu bringen.
Dort blieb die Waffe, bis Hitler sie als effektvolles Propagandamittel zurück nach Nürnberg, in die Stadt der Reichsparteitage, holte. Das war ein besonders interessanter Teil der Geschichte, fand Paul, denn an dieser Stelle häufte sich die Mythenbildung auffällig. Er überflog einige Einträge, um mehr über die Kriegsjahre zu erfahren. 1945, als Nürnberg in Schutt und Asche lag, kamen die Amerikaner ins Spiel. Ein Suchtrupp erhielt den Auftrag, die Reichskleinodien aufzuspüren. Erste Hinweise deuteten auf den Burgberg als Versteck hin. Doch dann. . .
Paul horchte abermals auf. Er meinte eine Art Schaben an seiner Tür zu hören. Nun war es wohl doch nötig, einmal nach dem Rechten zu sehen. Vielleicht hatte sich ja eine Katze in den Hausflur verirrt und fand den Ausgang nicht mehr.
Paul trottete gedankenverloren durch den Flur, vorbei an der Mokkabraunen, einem lebensgroßen Fotoabzug eines schwarzen Aktmodels, das er vor Jahren einmal abgelichtet hatte. Die schöne Farbige war seitdem zu einer Art guter Geist des Hauses für ihn geworden. Doch irgendetwas im Blick der Mokkabraunen stimmte ihn misstrauisch. Ihm war klar, dass es nur ein Foto war, nicht fähig zu Emotionen. Und doch schien es ihm so, als wollte ihn das Bild warnen.
Paul rechnete diesen absurden Gedanken seinem angespannten Gemütszustand zu und öffnete die Tür.
Im selben Augenblick fuhr er erschrocken zurück. Er sah gerade noch, wie ein Eimer in die Höhe gehalten wurde. Dann ergoss sich ein Schwall einer übelriechenden Flüssigkeit über ihn. Es war ein zäher Schleim, nass, fürchterlich stinkend nach verfaulten Eiern und vergammelten Essensresten.
Paul versuchte sein Gesicht zu schützen und konnte deshalb seinen Angreifer nicht erkennen. Er hörte bloß seine Stimme:
»Mörder! Wir dulden keinen Mörder in unserem Viertel! Verschwinden Sie!«
Paul kam die Stimme vage bekannt vor, aber er konnte sie nicht zuordnen. Als er sich aus seiner Deckung hervorwagte, war der Mann bereits verschwunden. Der dunkle Hausflur war leer. Paul hörte nur noch die schnellen Schritte des flüchtenden Angreifers aus dem Treppenhaus. Er war jedoch viel zu überrumpelt, schockiert und angeekelt, um ihm zu folgen.
Paul kniete auf dem Holzboden des Flurs, um den stinkenden Brei aufzuwischen. Er fluchte vor sich hin, während er darüber nachdachte, ob er die Polizei verständigen sollte.
Das tat er auch noch, als er unter der Dusche stand, um den Geruch nach faulen Eiern loszuwerden.
Er entschied sich schließlich dagegen, während er sich abtrocknete und frische Sachen anzog. Wenn dieser feige Angriff etwas in ihm geweckt hatte, dann ganz sicher nicht ein Bedürfnis nach Schutz oder Flucht. Nein, Paul war nun erst recht entschlossen, die Vorwürfe zu entkräften.
Und mehr denn je war er davon überzeugt, dass er das nur am Ort des Geschehens tun konnte: Er musste noch einmal zurück zum Tatort oder zumindest in dessen Nähe. Vielleicht würde er dort einen Teil seiner fehlenden Erinnerungen zurückerlangen. Oder aber er würde tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Ausstellung und Mord finden.
Es gab nur einen legalen Weg, diesen Plan umzusetzen: Er musste sich um eine offizielle Zutrittsberechtigung für die Ausstellungseröffnung bemühen. Das konnte er aber nicht allein schaffen.
Mit leisem Unbehagen tippte Paul die Nummer von Victor Blohfeld in sein Handy:
»Im Stress«, meldete sich der Reporter kurz angebunden.
»Flemming hier«, sagte Paul.
»Machen Sie’s kurz. Ich habe Spätdienst, und wir wollen gleich andrucken.«
Paul versuchte, seine wilden Gedanken zu ordnen: »Ich möchte Sie bitten, mich anstelle der Kollegin für die Ausstellungseröffnung im Rathaus einzusetzen.«
Eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung. »Warum sollte ich das tun?«, fragte Blohfeld trocken.
»Weil ich unbedingt noch einmal in die Nähe des Tatorts muss«, sagte Paul wahrheitsgemäß, wusste aber im gleichen Moment, dass er mit dieser
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