Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
während sich die Menschenmenge langsam auf den Eingang des Alten Rathauses zu bewegte, wollte er ja nicht zum Opernball, sondern nur zu einer Ausstellungseröffnung.
Spätestens an der Kontrollstation war er dann doch froh, dass er einfach beziehungsweise zweckmäßig gekleidet war. Denn bis auf ganz wenige hochgestellte Persönlichkeiten mussten alle Gäste, einschließlich der stadtbekannten VIPs, durch eine Torsonde gehen und sich vorher ihrer Jacketts, Gürtel und teilweise sogar der Schuhe entledigen. Paul amüsierte sich über die pikierten Gesichter einiger Damen aus der feinen Gesellschaft und den erfolglosen Protest einiger Ratsherren. Zugleich wunderte er sich ein wenig über diese extrem scharfen Sicherheitsvorkehrungen. Die Reichskleinodien stellten zwar einen unschätzbaren Wert dar, aber die Besucher der Eröffnungsfeierlichkeiten zählten ja wohl kaum zu den Kreisen typischer Langfinger. Er schaute sich um, da fiel ihm ein versprengtes Grüppchen Demonstranten auf, das von der Polizei auf Abstand zum Rathaus gehalten wurde. Paul konnte aus der Entfernung nicht lesen, was die Demonstranten auf ihre Plakate geschrieben hatten. Auch von ihren Rufen kam bei ihm nicht viel an. Ob sie der Grund für die strengen Kontrollen und die vielen Sicherheitskräfte waren, die überall herumschwirrten?
Als Paul an der Reihe war, musste er seine Kameraausrüstung auf eine mobile Röntgenstation legen. Dann bestand der Kontrolleur sogar noch darauf, dass Paul das Objektiv von seiner Nikon löste, und sah es sich genau an.
Paul hatte keine Gelegenheit, sich weiter über all den sicherheitstechnischen Aufwand zu wundern, denn Blohfeld tauchte gleichzeitig mit einer Kellnerin neben ihm auf.
»Worauf warten Sie?«, fauchte der Reporter ihn an. »Hier wimmelt es von Promis, schießen Sie los!«
Paul nahm sich erst einmal ein Glas Sekt-Orange vom Tablett der charmant lächelnden Kellnerin, bevor er sagte: »Ja, das sehe ich: Der Bürgermeister steht fünf Meter links von Ihnen, und die Chefs von Schöller und der Nürnberger Versicherungsgruppe sind gerade in den Historischen Rathaussaal entschwunden.«
»Wohin Sie jetzt auch entschwinden werden«, sagte Blohfeld streng und nahm Paul das Glas wieder ab. Paul quittierte das mit einem beleidigten Blick und steckte das Blitzlicht auf seine Kamera.
Im Historischen Rathaussaal war tatsächlich alles versammelt, was in Nürnberg Rang und Namen hatte. Jedes der Gesichter, die Paul in dem festlich erleuchteten Saal erblickte, tauchte mindestens zweimal pro Woche in der Zeitung auf. Der Saal selbst, der Paul wie jedes Mal durch seine imposante Größe und klassische Eleganz beeindruckte, war bis auf ein gigantisches Büfett und vereinzelt aufgestellte Stehtische leergeräumt worden. So war Platz für die eigentlichen Stars des Tages geschaffen worden. Diese warteten an der Wand gegenüber der Front aus hohen, sakral anmutenden Fenstern auf ihre große Stunde. Noch aber waren die Ausstellungsvitrinen mit roten Samttüchern verhüllt.
Den Ort für die Ausstellung der Reichskleinodien hätten die Verantwortlichen nach Pauls Meinung nicht besser wählen können: Der Rathaussaal war um 1330 errichtet worden und stand bis ins 17. Jahrhundert mehrfach im Zentrum der Reichsgeschichte. Mit seiner beeindruckenden Länge von gut vierzig Metern und einer Höhe von mindestens zwölf Metern war er zur Zeit seiner Entstehung der größte nicht kirchliche Bau nördlich der Alpen gewesen. Kein Geringerer als Albrecht Dürer hatte die Vertäfelungen und Wandgemälde gestaltet, wusste Paul. Diese waren allerdings beim großen Brand von 1945 verloren gegangen. Die Reichskleinodien brachten nun – zumindest für einige Zeit – den Glanz vergangener Zeiten hierher zurück. Paul konnte das Gefühl des Stolzes auf seine Heimatstadt kaum unterdrücken.
Das musste er aber, wenn er ordentliche Fotos für Blohfelds Zeitung schießen wollte, anstatt nur herumzustehen und zu schwelgen. Paul stürzte sich also in die Menge. Er fotografierte einen Siemens-Vorstand neben dem Bleistift-Grafen aus Stein, die Frau des Sparkassen-Chefs neben der Gattin eines Lebkuchenfabrikanten und den Star-Kicker des 1. FC Nürnberg zusammen mit der Tochter einer Fürther Versandhausdynastie.
Ja, dachte Paul, während er seine Speicherkarte austauschte, alle waren sie gekommen. Niemand konnte oder wollte sich der Anziehungskraft der Reichskleinodien entziehen. Und dann sah er endlich auch ihn, den wichtigsten Mann des
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