Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
Redaktion auf ihn wegen seiner Fotos. Paul brauchte aber noch Zeit zum Verschnaufen. Wollte er nicht wirklich verrückt werden, musste er nun doch irgendetwas finden, das ihn ablenken würde. Die beste Zerstreuung fand er meist beim Surfen im Internet. Also beschloss er, nochmals online auf Recherche zu gehen.
Er dachte an den Namen des amerikanischen GIs, den Stockinger erwähnt hatte: Swenson.
Schnell hatte Paul ihn ausgegoogelt. Der US-Leutnant hatte sich tatsächlich selbst zum Kaiser gekrönt, stellte Paul fest. Und es existierte auch wirklich ein Foto von dieser skurrilen Situation: Swenson mit Kaiserkrone auf dem Kopf und Reichsapfel in der Hand. Sein Lächeln wirkte kindlich begeistert.
Die Begleittexte verrieten Paul, dass Swenson sich mit den Fälschungen aus Aachen hatte ablichten lassen, was Bartels kleine Anekdote bestätigte. Vom Fund der echten Pretiosen gab es erwartungsgemäß kein Bildmaterial. Dafür aber die Erwähnung eines unheimlichen Gerüchts: Angeblich – so las Paul in einem weiteren Interneteintrag – hatte es gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einen besonders beeindruckenden Beleg für die Macht der Heiligen Lanze gegeben: Eine halbe Stunde, nachdem Swensons Kameraden in Nürnberg die wirklichen Reichskleinodien in ihren Besitz gebracht hatten, nahm Hitler sich das Leben.
Paul war es auf einmal sehr kalt. Er stand auf, um das angewinkelte Fenster zu schließen. Er dachte über diesen ziemlich kruden Hitler-Bezug nach und ertappte sich dabei, dass er allmählich selbst an die magischen Kräfte der Lanze zu glauben begann.
Lächerlich!, schalt er sich und setzte sich wieder vor den Computer. Zwischen dem Verlust der Lanze und Hitlers Selbstmord gab es keinen Zusammenhang, die zeitliche Nähe war ganz gewiss nur Zufall. Das sagte Paul sein gesunder Menschenverstand – und dennoch war ihm unbehaglich zumute.
Paul wollte sich nicht länger mit den Jahren der Nazidiktatur beschäftigen. Er verfolgte den Weg der Reichskleinodien weiter in die jüngere Vergangenheit. Paul übersprang die vielen Eintragungen, die um diverse Sonderausstellungen in Wien kreisten. Er blieb bei einem Eintrag über den gescheiterten Versuch einer politischen Splittergruppe radikalpatriotischer Franken hängen, die schon Mitte der sechziger Jahre die Rückführung der Reichskleinodien nach Nürnberg gefordert hatte. Dann scrollte er wieder großzügig weiter, bis er abermals anhielt:
Er war unversehens auf den Namen Schrader gestoßen. Der Eintrag über den Baumogul stammte bereits aus dem Jahr 1999. Schon damals hatte sich Bernhard Schrader dafür eingesetzt, Krone, Zepter und die anderen Kostbarkeiten für eine Ausstellung nach Nürnberg zu holen. Das war nun bald zehn Jahre her, dachte sich Paul. Dieser Schrader hatte einen langen Atem.
Der Name Schrader selbst war unterstrichen und mit einer weiteren Seite verlinkt. Paul klickte den Link an, worauf sich der Bildschirm mit einer eng geschriebenen Biografie Bernhard Schraders füllte. Es war klar ersichtlich, dass es sich hierbei nicht um eine offizielle Seite des Bau – und Immobilienkonzerns handelte. Paul konnte nicht erkennen, wer sich die Mühe gemacht hatte, all diese Informationen über Bernhard Schrader zusammenzutragen, denn ein Impressum fehlte. Dennoch las er den Text interessiert durch.
Der Autor ging vor allem auf Schraders Schwäche für sakrale Kunst ein. Dem Text zufolge besaß Schrader eine beachtliche Sammlung von Kunstgegenständen mit religiösem Hintergrund, darunter angeblich auch echte Reliquien.
Die Heilige Lanze – so endete der Eintrag – wäre die Krönung dieser Sammlung.
Angefügt waren pdf-Dokumente mit eingescannten Zeitungsartikeln. Paul sah sie flüchtig durch. Tatsächlich hatte sich Schrader im Laufe der Jahre immer wieder schwärmerisch über die Reichskleinodien und speziell die Heilige Lanze geäußert. Wie auch immer, dachte sich Paul, die Heilige Lanze an sich zu bringen, war selbst für einen Millionär wie Schrader eine Nummer zu groß. Aber immerhin hatte Schrader es geschafft, dass sie wenigstens für eine gewisse Zeit in Nürnberg sein würde.
Als Paul den Computer abschaltete und sich die Augen rieb, war er trotz einer Fülle neuer Informationen nicht wirklich schlauer geworden. Er fühlte sich niedergeschlagen und wurde von einem heftigen Anflug von Selbstmitleid gebeutelt. Paul schielte zum Telefon. Am liebsten hätte er sich bei Katinka ausgeheult. Aber das konnte er weder ihr noch sich selbst
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