Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
versuchte Paul, mehr Informationen aus Bartel herauszulocken.
Dieser atmete stoßartig. Paul merkte ihm an, dass die Aufregung dieses Tages ein bisschen zu viel für ihn war. Aber der alte Mann ging auf Pauls Frage ein: »Ja, in der Tat, sehr viele Erinnerungen.« Langsam schlurfte er zur nächsten Vitrine weiter.
Paul folgte ihm und hörte zu:
»Sie kennen die Vorgeschichte, junger Mann? Kaiser Sigismund hat die Reichskleinodien 1424 an die Pegnitz bringen lassen. Für ewige Zeiten sollten sie dort bleiben. Der Papst bestätigte diese kaiserliche Verfügung.«
»Ja, Herr Bartel, ich habe schon ein wenig in meinen Geschichtsbüchern gestöbert«, sagte Paul.
»Gut. Dann wissen Sie auch, dass diese ewigen Zeiten nur bis 1796 dauerten. Dann lagerten die Reichskleinodien zum Schutz vor den Franzosen in Österreich und eine Zeitlang auch in Ungarn. Hitler brachte sie uns zurück. Aber als sich das Ende des Krieges abzeichnete, hatte Willy Liebel, unser Oberbürgermeister, Sorge, dass sie in die Hände der Besatzer fallen könnten. Oder dass uns Berlin einen Werwolf-Befehl erteilt und die Vernichtung der Pretiosen gefordert hätte.« Bartel rang nach Atem. »Das wäre furchtbar gewesen, in der Tat. Die Stadträte Konrad Fries und Heinz Schmeißner haben daraufhin einen Plan entwickelt und dann zusammen mit uns Helfern umgesetzt: Wir holten die Reichskleinodien aus dem Kunstbunker und vermauerten sie an geheimer Stelle. Wir schworen uns, dass wir das Geheimnis bewahren würden.«
»Warum hat Ihr Plan nicht funktioniert?«
»Hat er ja, in der Tat, er hat anfangs großartig funktioniert. Die Amerikaner marschierten in Nürnberg ein und erlebten in den Felsengängen und im Kunstbunker eine böse Überraschung: Der größte Schatz, die Reichskleinodien, fehlte.«
»Wie haben die Amerikaner reagiert?«
»Sie fielen auf den Schwindel herein und suchten an anderer Stelle weiter. In einem Bergwerk in Siegen glaubten sie, sie wären fündig geworden. Die Soldaten haben sogar in Stars and Stripes, ihrer Armeezeitung, mit den Reichskleinodien posiert.«
»Wie das?«, fragte Paul erstaunt.
»Es waren sehr gute Kopien. Sie stammten aus Aachen und waren schon 1915 im Auftrag von Wilhelm II. angefertigt worden.«
»Aber dann sind Ihnen die Amis doch noch auf die Schliche gekommen?«, folgerte Paul.
»In der Tat, leider ja«, sagte Bartel mit unüberhörbarem Bedauern. Er bewegte sich nun langsam auf die Vitrine mit dem Glanzstück der Ausstellung, der Heiligen Lanze, zu. »Schmeißner und Fries wurden inhaftiert und brachen den Schwur. Sie verrieten das Versteck.«
»Und die Amerikaner haben Gnade walten lassen?«, erkundigte sich Paul behutsam.
Bartel atmete abermals stoßartig ein und aus. »Sie hätten es tun sollen«, sagte er zornig. »Unser Handeln hatte ja nichts mit NS-Kult zu tun, und bereichern wollten wir uns auch nicht. Wir haben lediglich als treue Diener Nürnbergs gehandelt. In der Tat, das haben wir.« Kleinlaut fügte er hinzu: »Wir wurden zu fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Doch nach zwanzig Monaten kamen wir alle frei.« Plötzlich funkelten seine Augen stolz: »Die schönste Bestätigung, dass wir das Richtige getan hatten, war die Begründung für unsere vorzeitige Entlassung aus der Haft. In der Tat, ich werde es nie vergessen: Der US-Colonel, der uns herausholte, sagte: › Oh, ich hätte es genauso gemacht! ‹ «
An der Vitrine blieben sie stehen. Die Spitze der Heiligen Lanze war prachtvoll dekoriert. Ihr stolzes Alter und ihre bewegte Vergangenheit waren der legendären Waffe ebenso anzusehen wie die Versuche der unterschiedlichen Besitzer, sie durch Veränderungen immer wieder ihren persönlichen Vorstellungen anzupassen. Paul konnte durchaus die Faszination nachempfinden, die von der Lanze ausging. Doch seine Gedanken kreisten in diesem Moment mehr um seinen greisen Begleiter.
Paul war unschlüssig, was er von Bartel halten sollte. War dieser steinalte Mann ein Ewiggestriger, vernarrt in die Idee, die Reichskleinodien tatsächlich für alle Zeiten in Nürnberg halten zu können? Oder war er nicht doch einfach nur ein aufrichtiger Nürnberger Bürger, der im besten Glauben für das Wohl seiner Stadt gehandelt hatte? Die Menschen damals mussten unter Gegebenheiten entscheiden und agieren, die sich heute gar nicht mehr nachvollziehen ließen, wog Paul ab.
Er entschied sich dafür, Bartels Ideen zwar nicht gutzuheißen, aber zu akzeptieren. Er wollte Bartel gerade
Weitere Kostenlose Bücher