Paula Kussmaul laesst nicht locker
Schreck und liefen fort. Dabei war der Riese noch ein Kind und sehr freundlich. Weil ihm das kleine Schloss aber gefiel, nahm er es mit zu sich nach Hause in die Riesenburg und schenkte es seiner Schwester: als Puppenstube. Und natürlich erzählte er ihr von den Zwergen, die darin gewohnt hatten, und da wünschte sich seine Schwester, dass die Zwerge zurückkämen. Sie sollten wieder in ihr Schloss einziehen, damit sie mit ihnen spielen könnte. Und der freundliche Riesenbruder lief los und suchte die Zwerge, konnte sie aber nirgends finden. Er suchte so lange, bis er schon richtig erwachsen war, und als er endlich heimkehrte, war seine Schwester auch schon erwachsen und verheiratet und hatte Kinder. Und nun spielten die Kinder seiner Schwester mit dem Schloss. Und weil sie nicht wussten, dass es in Wahrheit keine Puppenstube, sondern ein richtiges Schloss war, machten sie es eines Tages kaputt. Da wurde der freundliche Riese ganz traurig, und er weinte so lange, bis aus seinen Tränen Flüsse geworden waren. Die Zwerge, die sich unter der Erde versteckt hatten, freuten sich darüber. Sie bauten sich ein großes Schiff, das in Wahrheit natürlich ganz klein war, und fuhren damit davon. Wohin, so Linus, würde nie einer erfahren. Weil es ja ganz allein sein Märchen war, mit dem er machen konnte, was er wollte. Und er wollte gar nicht wissen, wo die Zwerge jetzt lebten. Denn wüsste er es, würde er sie vielleicht besuchen – und dann ginge die ganze Geschichte wieder von vorn los.
Paula konnte nur staunen. Was Linus sich alles ausdachte! Und es war nicht mal doof, was er ihr da erzählt hatte. Es steckte irgendwas darin, über das sie nachdenken musste; etwas, von dem Linus selbst vielleicht gar nichts wusste.
Sie redeten noch ein bisschen über Linus' Märchen, und Paula versuchte, auch eines zu erfinden. Aber das klappte nicht; ihre Geschichte fand sie selbst langweilig. Als sie damit fertig war, war Linus eingeschlafen. Sie aber lag noch wach und dachte an Linus' Märchen, bis sie wieder ihren eigenen Gedanken nachhing.
Zecke hatte Enno sie genannt! Dabei war sie vielleicht viel zu wenig Zecke gewesen, hätte noch viel besser auf ihn aufpassen müssen, ihn keine einzige Sekunde aus den Augen lassen dürfen ...
Aber das ging ja gar nicht. Wie sollte sie ihn denn immerzu beobachten? Sie konnte ihn doch nicht in einen Käfig sperren wie Manolito.
Paula dachte nach und dachte nach, bis auch sie endlich eingeschlafen war. Und dann träumte sie einen ganz furchtbaren Traum: Enno lief auf einer hohen Mauer entlang und sie immer hinter ihm her. Unter ihnen klaffte ein Abgrund. Es ging so tief hinunter, sie konnte nicht einmal erkennen, ob da unten eine Stadt war, ein Fluss, ein Wald oder gar nichts mehr.
»Enno!«, rief sie voller Angst. Enno aber hörte nicht, lief nur immer weiter fort. Und sie musste ihm nachlaufen, ob sie wollte oder nicht. Sie konnte doch nicht stehen bleiben, mitten auf dieser hohen Mauer.
Jetzt wäre sie beinahe abgerutscht! »Enno!«, rief sie wieder und hätte fast geweint. Weshalb lief Enno denn vor ihr weg? Und warum lief er so schnell? Wenn sie langsamer laufen würden, wäre doch alles viel weniger gefährlich.
Plötzlich war der Vater da. Er stand vor ihr auf der Mauer, breitete beide Arme aus und hielt sie fest. »Nicht!«, rief er und zeigte in den Abgrund. Und da sah Paula, dass unter ihnen dichter, grüner Dschungel war – sicher südamerikanischer Dschungel. Unmengen bunter Papageien flogen über all das Grün hin und alle riefen sie etwas. War Manolito auch dabei?
»Komm mit nach Hause.« Der Vater nahm ihre Hand.
»Aber Enno!«, rief sie. »Wo läuft er denn hin?«
»Enno?«, fragte der Vater. »Wer ist denn das?«
Da fiel Paula ein, dass der Vater Enno ja noch gar nicht kannte. Sie wollte ihm erklären, wer Enno war – doch sie brachte kein Wort heraus. Immer wieder machte sie den Mund auf – doch kein Wort kam über ihre Lippen.
War sie plötzlich stumm geworden? Oder hatte sie vergessen, wie man spricht? Eine entsetzliche Angst griff nach Paula, sie rang nach Luft, fuhr auf und erwachte.
Im Zimmer war es dunkel, vom Flur her kam kein Geräusch, Linus lag in seinem Bett und schlief. Alles war wie immer; keine hohe Mauer, kein fliehender Enno, kein Dschungel, kein Vater, der sie festhielt. Erleichtert sank Paula in ihr Kissen zurück. Was hatte sie da nur geträumt! Eine solche hohe Mauer mitten im Dschungel gab es ja gar nicht.
Oder etwa doch?
Der Morgen danach
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