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Pauschaltourist

Pauschaltourist

Titel: Pauschaltourist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Liehr
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uns okkupierte, was
     im nunmehr wieder gut gefüllten Saal nicht leicht war. Als ich mich umdrehen wollte, um an der Bar Nachschub zu holen, hielt
     ich in der Bewegung inne, weil ich das Gefühl hatte, jemanden erkannt zu haben. Ich sah wieder zur Bühne. Ich hatte mich nicht
     getäuscht. Der Mann, der sich gerade, eine weiße E-Gitarre lässig auf dem Rücken tragend, über das Mikrofon beugte, war ein
     ehemaliger Klassenkamerad von mir. Henning Soundso. Gymnasium, neunte und zehnte Klasse, dann war er abgegangen. Unscheinbar,
     hanseatischer Typ, etwas schüchtern, schlecht in Sport, gut in Mathe und, richtig, in Musik. Ich hatte nach seinem Abgang
     nie wieder etwas von ihm gehört.
    »Wollt ihr tanzen?«, fragte er ins Mikro, aber die Frage verlor sich in einem langgezogenen Piepton, den das Publikum mit
     kollektivem Stöhnen quittierte – nicht wenige nahmen die Hörgeräte heraus oder überprüften die Einstellungen. Henning beugte
     sich zur Seite und gestikulierte in Richtung Ausgang, wo das Mischpult stand, das einer von Chicos Kollegen bediente. Dann
     zog er die Gitarre nach vorne, nickte kurz seinem Schlagzeuger zu, der anzählte. Tat-tatatt, tat-tatatt. »It’s Not Unusual«
     begann, und – mal die äußeren Umstände außer Betracht lassend – Henning war richtig gut. Beschwingt trabte ich zur Bar, wo
     Chico sofort |65| loslegte, unsere Drinks zu mixen, sobald er mich von weitem wahrnahm.
    Der Tom-Jones-Song endete, als ich mit den Getränken zurückkehrte. »Wir sind die Henning-Vosskau-Showband«, sagte Henning,
     dann spielten sie »All Of You«, was einen bemerkenswerten Teil des Publikums in die Senkrechte beförderte. In null Komma nichts
     war die Tanzfläche voll.
    »Das ist ein Kumpel von mir«, erklärte ich Nina und wies auf den Frontmann. Sie nickte rhythmisch, wobei sie wieder am Pina-Strohhalm
     sog. »Sind gar nicht schlecht«, sagte sie dann, ohne den Blick von der Bühne zu nehmen. Dort befanden sich außer meinem Schulkameraden,
     der einen reichlich coolen Eindruck machte, ein Bassist, der wie eine Mischung aus Homer Simpson und Bruce Willis aussah,
     ein Schlagzeuger, der an einen Langzeitstudenten auf LSD erinnerte, zwei blasse Bläser und zwei außerordentlich hübsche Damen,
     die meistens Tanzbewegungen andeuteten und sich bei den Refrains zu ihren Mikros beugten, ohne hörbaren Anteil an der Darbietung
     zu haben. Alle Mitglieder der Henning-Vosskau-Showband trugen schwarze Hosen und pinkfarbene Jacketts über schwarzen Hemden.
     Übergangslos wechselten sie von »All Of You« zu einem Jimmy-Cliff-Song, was ich ziemlich gewagt fand. Die Tanzflächenbevölkerung
     halbierte sich, aber Nina stand auf und zog mich aus meinem Stuhl bis dicht vor die Bühne. Das gab mir die Gelegenheit, Henning
     zuzuwinken, der auch ein paar Mal zu uns heruntersah, bis der Groschen fast hörbar fiel. Nina tanzte sehr entspannt, ich hielt
     mich zurück, weil Tanzen grundsätzlich nicht mein Ding ist. Deshalb verabschiedete ich mich nach dem Stück höflich, Henning
     winkte mir zu und machte Gesten, die darauf schließen ließen, dass er in der Pause einen Drink mit mir nehmen wollte. Ich
     nickte fröhlich und fühlte mich plötzlich sehr viel besser als zu jeder anderen Zeit dieses Tages.
    »Großer Gott, wie lange ist das her?«, fragte er, als wir an einem Tisch in der Bar saßen und uns anstarrten, als wäre einer
     von uns |66| Raumfahrer und der andere Bewohner eines fremden Sonnensystems.
    »Über zwanzig Jahre«, schätzte ich. Henning nickte. Außer uns beiden saßen Nina und eine der Backgroundsängerinnen am Tisch.
     »Das ist Angela«, stellte Henning vor. »Ich hasse diesen Namen«, sagte die und strahlte mich an. »Wir hatten mal was«, ergänzte
     Henning und zwinkerte mir zu, dann drehte er sich zu Nina. »Was bringt eine so hübsche junge Frau dazu, in einem solchen Hotel
     Urlaub zu machen?«
    Dann geschah etwas, das mich sehr verblüffte – Nina errötete. »Wir sind inkognito hier«, sagte sie leise und irgendwie niedlichschüchtern.
     »Nikolas und ich arbeiten für ein Reisemagazin. Aber – pssst.« Dabei legte sie Henning ihren rechten Zeigefinger auf die Lippen.
     Für ein paar Sekunden schien die Zeit stillzustehen. Dann nahm sie den Finger wieder weg, wobei Hennings Kopf ihrer Bewegung
     einige Zentimeter zu folgen schien. Das Lächeln, das beide im Anschluss zeigten, hätte man für ein Werbeplakat benutzen können
     – wahlweise für Eigenheimhypotheken,

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