Pauschaltourist
– ja.«
Lisa nickte langsam, weiß der Geier, was sie dabei dachte. Dann beugte sie sich zu mir und hauchte mir einen Kuss auf die
Wange. »Muss schlimm sein nach so langer Zeit.« Ich konnte nur erstaunt nicken. Sie drehte sich zu Steini und küsste ihn auf
die gleiche Weise. »Man will ja nicht ungerecht sein.« Dann ging sie auf die Art, wie sie nur Lisa beherrscht, zum Tresen
zurück. Sämtliche Gäste verfolgten sie mit ihren Blicken, jedenfalls die mit Säcken und Schwänzen. Sogar Steini.
Er absentierte sich aufs Klo, was mir die Gelegenheit gab, den Tag Revue passieren zu lassen. In aller Frühe hatte mich ein
völlig hingerissener Heino Sitz angerufen, und während der folgenden zwanzig Minuten hatte er mir seine Lieblingsstellen aus
dem Artikel mehrfach vorgelesen, was mich enorm freute, wenn auch nicht so sehr, wie es das noch vor zehn Tagen getan hätte
– der Gedanke, irgendwann wieder, in welcher Position auch immer, in der Redaktion zu arbeiten, kam mir mittlerweile immer
unwirklicher vor. Ich widersprach mehrfach seiner durchaus richtigen Vermutung, Nina hätte keinen großen Anteil an dieser
Arbeit gehabt (»Klingt einfach nicht nach Blume!«), aber immerhin erwähnte er die paar Fotos, die meine Kollegin an den letzten
beiden Tagen in aller Eile geschossen hatte, in einem lobenden Nebensatz.
Danach hatte ich in unserer – meiner – Bude gehockt und die Wände angestarrt. Einerseits war ich froh, wieder zu Hause zu
sein; die vergangene Woche kam mir gefühlt wie ein halbes Jahr vor. Andererseits wusste ich nichts mit mir anzufangen, obwohl
es ja auch vorher keine Ausnahme gewesen war, ohne Silke in der Wohnung |101| zu sein. Ausschlaggebend war die Tatsache, dass es jetzt für immer so bleiben würde. Interessanterweise war ich nicht traurig,
nicht mehr so sehr, sondern einfach damit überfordert, nach sieben Jahren mein komplettes Leben wieder allein organisieren
zu müssen. Ich dachte an die gemeinsamen Abende, an unsere amüsanten Kochversuche, an die vielen Veränderungen, die ich Silke
zuliebe hingenommen hatte, einige davon sogar zu meinem Besten, was ich auch einzugestehen in der Lage gewesen war. Unsere
Musikgeschmäcker hatten sich angeglichen (Silkes an meinen), unsere Fernsehpräferenzen (umgekehrt), unsere Freundeskreise
(meiner erweiterte sich, Silkes blieb fast unverändert). Das war jetzt alles wieder offen. Dieser Gedanke verstörte mich.
Also folgte ich dem, den ich am Morgen gleich als Erstes gehabt hatte, und ging zu meiner Hausärztin.
Frau Dr. Jüterborger war eine Frau, der man noch ansah, dass sie mal sehr hübsch gewesen sein musste, etwa vor dreißig Jahren.
Es gelang ihr, etwas, das Steini mal »die Eleganz des Alters« genannt hatte, mit den Resten der längst verblühten Jugendlichkeit
zu verbinden. Allerdings täuschte das nicht über die Ruppigkeit und an Unfreundlichkeit grenzende Harschheit hinweg, die Frau
Doktor an den Tag legte. Genau deshalb ging ich zu ihr. Sie war ehrlich, direkt, präzise, zielorientiert, und sie kannte keinerlei
Rücksicht. Bei ihr war ich sicher, von einer bösen Diagnose umgehend zu erfahren und keine Mondprognosen über meine verbleibende
Lebenserwartung zu hören. Und: Dr. Jüterborger war begeisterte Raucherin. Nicht selten traf man sie auf dem Weg in ihre Praxis
vor der Tür stehend mit einer Fluppe im Gesicht an. Sie vertrat die Ansicht, dass das Wohlgefühl, das zehn Zigaretten am Tag
(»Keine einzige mehr!«) verursachten, durchaus die drei oder vier Jahre wert war, die es – durchschnittlich – an Lebenserwartung
kostete. Die ja, wie sie auf ihre knorrige Art betonte, vom Ende weggingen, also vom ohnehin schlechteren Teil. Das war eine
sehr originelle Ansicht für eine Medizinerin, aber ich erwartete |102| auch nicht von ihr, mir gesundes Leben vorzuführen, sondern ausschließlich,
meine
Gesundheit instandzuhalten.
Die Sackratten waren in Minutenschnelle diagnostiziert, sogar ich konnte die grauen Knäulchen am Ansatz meiner Schamhaare
erkennen, und nach Bekanntwerden der Lösung meinte ich, überall herumkrabbelnde Läuse zu sehen, was mir eine Ganzkörpergänsehaut
verschaffte. Ohne große Diskussionen wies Frau Doktor ihre Helferin an, mich sorgfältig zu rasieren, was gleichzeitig sehr
peinlich und bemerkenswert angenehm war. Ich bekam noch ein Medikament verschrieben, und dann erklärte mir die Ärztin, dass
solcher Scheiß, wie sie es nannte, mal passieren
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