Pauschaltourist
Perspektive ist
falsch.«
Ich stöhnte. »Mal sehen, ob ich meine Perspektive in Agadir kalibriert bekomme. Aber, hey. Lassen wir das Thema. Ich hab noch
ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«
Ich erzählte ihm von meinem Kennenlerngespräch mit Nina Blume und den interessanten Details, die sie mir offenbart hatte –
und die sich aus einer Quelle gespeist hatten, die jetzt vor mir saß. Er lächelte.
»Sie hat mich angerufen, und wir haben uns verabredet, am Abend vor eurem Abflug. Eigentlich« – er sah in Richtung Tresen
– »keine unangenehme Person, diese Frau Blume. Ich hatte sie falsch eingeschätzt.«
|105| Ich nickte. So war es mir auch ergangen. Und ich vermutete langsam, dass sie dieses Negativimage als eine Art Angriffsverteidigung
nutzte, sehr bewusst.
»Was mich verblüfft hat – sie wollte etwas über dich erfahren, weil sie unsicher war. Fast schon besorgt. Erst habe ich mich
verweigert, aber sie hat so nett insistiert – und mir ein prächtiges Essen spendiert. Ich habe ihr allerdings nur erfreuliche
Sachen verraten. Und deine Musik- oder Filmlieblinge sind ja nun wirklich kein Geheimnis.«
»Du hättest mir was sagen können«, nörgelte ich gekünstelt. »Hätte ich, ja. Aber ich fand das lustig. Sie hat mich darum gebeten,
Stillschweigen zu wahren. Und, wie gesagt. Wichtige Sachen waren nicht dabei.«
»Dass ich Pudding mit Haut liebe, das wissen ganze drei Leute von mir – du, meine Mutter. Und Silke.« Mein Hals wurde von
einem flink hineingehüpften Frosch besetzt. »Jetzt noch Frau Blume«, ergänzte ich mühevoll.
»Okay. Ich zahle den Deckel, und du hast noch was gut bei mir. Aber ich fand das wirklich so …
nett
, wie sie da vor mir saß, mit ihrer Solariumsbräune und in diesen vollkommen unmöglichen Hosen, auf ihrer Oberlippe herumgebissen
hat und etwas über dich wissen wollte. Der Menschenfreund in mir konnte nicht widerstehen. Und Geheimnisse habe ich ja wirklich
nicht verraten.«
Mir kam ein Gedanke. »Und umgekehrt?«
Er grinste kurz, dann wurde sein Gesicht schlagartig ernst. »Frau Blume ist meiner Meinung nach auf dem Weg zur Alkoholikerin,
aber das scheint mir eine mittelbare Ursache zu haben. Jedenfalls hat sie an diesem Abend Rotwein wie Wasser getrunken, aber
erst nach dem achten Glas war eine Veränderung zu bemerken. Der gute Herr Sitz scheint ihr zu schaffen zu machen.«
Ich wurde hellhörig. »Inwiefern?«
»Keine Ahnung, aber bei dem Thema geschieht etwas mit ihr. Ich wollte höflich sein und ein bisschen Smalltalk machen, und |106| obwohl sie da schon angetrunken war, hat sie ziemlich heftig reagiert. Möglich, dass an den Gerüchten doch was Wahres dran
ist.«
Ich dachte an Marejke Medsger und konnte mir das eigentlich nicht vorstellen. Andererseits wusste ich Details über MM, die
selbst Steini verblüfft hätten, aber etwas in mir wollte sie nicht verraten. Als ich im Internetcafé meine Mailbox geprüft
hatte, befanden sich dort unter anderen zwanzig Nachrichten von jenem anonymen Account, und jede war anzüglicher als die vorige.
Möglich, sogar wahrscheinlich, dass Sitz inzwischen auch wusste, wo der Hund an den Baum pisste. Ich beschloss, das Thema
zu wechseln.
»Was gibt’s bei dir Neues?«
Er kniff die Lippen zusammen, lehnte sich zurück und sah an die Decke. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte er leise in
Richtung Holztäfelung – und wiederholte damit den letzten Satz, den ich von Silke gehört hatte, wobei der Frosch in meinem
Hals die Backen blähte. Irgendwie schien das aber nicht alles zu sein, doch er sprach nicht weiter.
»Wow. Glückwunsch!«, brachte ich heraus. Steini sah mir fest in die Augen, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten.
»Ich bin in einer völlig neuen Situation.« Er senkte den Blick, der traurig wurde, gleichzeitig war da noch etwas anderes,
das ich nicht erfassen konnte. Ich bekam eine Gänsehaut. Er beugte sich zu mir und legte mir eine Hand auf die Schulter. Dann
seufzte er. »Nikolas, ich werde wahrscheinlich die Stadt verlassen. Wenn alles so läuft, wie es sich derzeit abzeichnet, ziehe
ich noch im Sommer nach Hamburg.«
|109| 1.
Es wäre einfacher gewesen, von Gran Canaria direkt nach Agadir zu fliegen, schließlich lagen die beiden Locations nur 600
Kilometer voneinander entfernt. Schon beim Anflug zeigte sich, dass sie viele Ähnlichkeiten aufwiesen. Im morgendlichen Schatten
des Atlasgebirges hing ein großflächiger, unansehnlicher Ort auf
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