Pausen tun uns gar nicht gut
Angelika entdecke ich hier oben wieder.
„Wer die Vergangenheit nicht loslässt, hat keine Hand frei für die Zukunft“
steht darauf. Es berührt mich und verpasst mir eine Gänsehaut. Ob sie hier oben
ihren verstorbenen Sohn gebeten hat, sie loszulassen?
Wie viele Tränen hier im Laufe
der Jahrhunderte wohl schon vergossen wurden, kann man nur erahnen. Wir lassen
uns an diesem Ort etwas Zeit, bevor wir unsere Wanderung fortsetzen. Die
nächsten 3 km pilgern wir auf Pfaden und Wegen bergauf und bergab bis in das
Dörfchen Manjarín. Vor einer Schutzhütte sind eine Reihe von
Hinweistafeln aus Holz angebracht, mit Namen von bekannten Städten, wie Rom,
Jerusalem, Mexico, Trondheim oder Santiago und den dazu
gehörenden Kilometerangaben.
Der Abstieg beginnt und der
gibt es mir wieder knüppeldick. In meinen Knien spüre ich heftige Stiche, aber
auch daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Das ältere Ehepaar aus der Nähe
von Halle, das gestern Abend mit uns am Tisch saß, überholt uns
in einem rasanten Tempo. Sie vorneweg und ihr Mann mit einem puterroten Kopf
hinterher. Mein Gott, denke ich, er hatte doch schon einen Schwächeanfall auf
dieser Reise, jetzt bringt sie den Ärmsten um. Heidi möchte mehr Pausen
einlegen, aber ich habe Angst vor der aufkommenden Sonne. Wir laufen durch El
Acebo, Riego de Ambrós und erreichen umgeben von einer
herrlichen Landschaft Molinaseca. Vor einer Bar treffen wir die
Cuxhavenerin und ihren holländischen Freund wieder und setzen uns eine Weile zu
ihnen. Die letzten 7 km des Tages führen bei empfundener Siedetemperatur direkt
an der Straße entlang. Heidi geht mir mit ihrer Quengelei gehörig auf den Keks.
Sie rechnet mir jeden gelaufenen Kilometer doppelt vor und nimmt das Ganze mal
drei. Mein Charme, der einer Kohlenschaufel gleicht, geht mit mir durch. Ich
schlage vor, den Rest des Caminos mit Sandaletten auszulegen, damit die gnädige
Frau wie durch Boutiquen schlendern kann. Wir treffen in Ponferrada , der Hauptstadt der Region Bierzo ein. Die Templerburg von Ponferrada ist wohl eines der bedeutendsten Zeugnisse mittelalterlicher Militärarchitektur
in Spanien.
Der 1118 von Kreuzrittern in Jerusalem gegründete Orden machte sich den Schutz der heiligen Stätten und der Pilgerwege
zur Aufgabe. Die Templer waren Ritter und Mönche zugleich und kontrollierten
innerhalb weniger Jahrzehnte das Finanz- und Transportwesen der christlichen
Welt.
Ihre Macht zerfiel auf
Betreiben des französischen König Philipp IV., dem der wirtschaftliche Einfluss
der Templer missfiel. Als Folge verbot Papst Klemens V. den Orden wegen
angeblichem Satanskult und Hexerei.
Diese Stadt ist mit über 60.000
Einwohnern die letzte große Stadt vor Santiago de Compostela. In
der völlig erneuerten kirchlichen Herberge finden wir noch Platz und teilen das
Zimmer mit den drei Italienern, die wir schon vom zweiten Pilgertag an kennen.
Sogar eine Kapelle befindet sich auf dem Herbergsgelände, die zu Gottesdiensten
genutzt wird. Der Schweizer vom gestrigen Abend schaut aus dem Nachbarfenster
und fragt, ob wir Lust hätten, mit ihm in die Stadt zu gehen. Rudi ist sein
Name, er liefert eine Menge an Gesprächsstoff. Er lebt in der Nähe von Valencia, nachdem er seine Arbeit und sein Haus in Basel wegen des Infarkts
aufgegeben hat. Nach seiner Krankheit wollte er sein Leben komplett ändern.
Sein Dasein bestand nur aus Arbeit. Geld spielte kaum eine Rolle, Freizeit und
Spaß sicher auch nicht. Selbst Kinder waren nie ein Thema. So wie er jetzt sein
Leben gestaltet, wäre es für ihn früher undenkbar gewesen. Er geht diesen Weg,
um mit seiner alten Heimat endgültig abzuschließen und sich in Zukunft mit
Dingen zu beschäftigen, die ihm Spaß bereiten. Wir essen gemeinsam auf dem
Marktplatz von Ponferrada, und es gesellen sich noch weitere
Pilger zu uns. Ein Pärchen aus Hamburg, die den Camino dreiteilt
und jedes Jahr ein Stück des Weges geht, ein katholischer Priester aus
Österreich mit seinem Ministranten und ein Pärchen aus der Schweiz werden
kurzweilige Gesprächspartner. Es wird ein lustiger Abend, und wir finden nur
schwer ein Ende.
14.06.2009
Ponferrada
— Vega de Valcarce 42,5 km
Wir sind um 6:30 Uhr nach einem
Automatenkaffee wieder auf Kurs, marschieren der Markierung nach kreuz und quer
durch Ponferrada und verlassen die Stadt in Richtung Westen. Ohne
Halt, aber eher gemütlich wandern wir durch die flache Gegend und erreichen
nach gut 3,5 Stunden Cacabelos. Heute ist
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