Pausen tun uns gar nicht gut
gibt’s doch nicht, das ihr es
bis hierher geschafft habt“. Heidi tönt im Übermut: „Na hör mal, wir sind doch
keine Weicheier“. An seinem Tisch sitzen noch zwei holländische Radpilger,
denen uns Rudi als seine Freunde aus der ehemaligen DDR vorstellt. Ich hab noch
nicht das erste Bier bestellt, da fragt mich einer von beiden, warum sich die
ehemals Eingesperrten die Mauer zurück wünschten. Ich frage ihn daraufhin
provokativ, warum die Holländer nicht zur Fußball-WM wollen. Aber das stimme
doch nicht, antworten er und sein Mitpilger fast wortgleich. „Seht ihr”, sage
ich, „es gibt sicherlich so viele Holländer, die ihre Nationalmannschaft nicht
bei einer Fußballweltmeisterschaft sehen wollen wie frühere DDR-Bürger, die
sich ernsthaft die Mauer zurück wünschen”. Man müsse das Ganze doch viel
differenzierter sehen, sich damit intensiver beschäftigen, um ein Urteil
abgeben zu können. Es gibt mit Recht an der jetzigen Gesellschaftsform jede
Menge zu kritisieren, dass heißt aber noch lange nicht, dass alle Ostdeutschen
die Mauer und den Schießbefehl begrüßen würden. Viele haben nicht die reale DDR
in Erinnerung, sondern eine im Nachhinein konstruierte DDR. Je weiter frühere
Zeiten zurückliegen, desto positiver wird die Vergangenheit gesehen und das
Negative ausgeblendet. So erscheint heute die DDR vielen positiver als sie in
Wirklichkeit für den Einzelnen war. Was sich für euch aus der Ferne als
unerklärlich darstellt, ist aus der Nähe betrachtet menschlich und völlig
normal.
Das Pilgermenü nehmen wir zu
fünft in einem Extraraum ein und lassen den Abend an der Bar des Hauses
ausklingen.
16.06.2009
Triacastela
— Moimentos 37 km
Wir schnüren unsere Rucksäcke
außerhalb des Schlafraums und essen eine Kleinigkeit im großzügigen Speiseraum
der Herberge. Bei der Gelegenheit lernen wir Michel, einen Schweizer
Zollbeamten aus Lancy in der Nähe von Genf kennen.
Er ist gestern am späten Nachmittag kurz nach uns in dieser Herberge
eingetroffen und hat die Nacht im selben Zimmer wie wir verbracht. Ihm fällt
sofort die Wunde an Heidis Knie auf, die sie sich im Süßwarengeschäft von Nájera zugezogen hat. Sofort kramt er eine Salbe aus seiner Notfallapotheke und
empfiehlt, sie auf die noch immer nässende Wunde aufzutragen. Ohne viel
Aufhebens fordert er Heidi auf, die Salbe zu behalten und verabschiedet sich
von uns. Kurze Zeit später verlassen auch wir die Herberge, gleich hinter dem
Ort verlaufen wir uns. Wir wandern erst in die längere Alternativrichtung,
kehren um und verlieren dadurch eine gute halbe Stunde Zeit. Den rechten Pfad
findend, werden wir mit schönen Hohlwegen zwischen alten Bäumen oder mit Moos
bewachsenen Mauern belohnt. Bis San Xil geht es beschwerliche 3
km bergauf und dann bis Sarria 15 km wunderbar leicht bergab.
Die lange Siesta in Sarria vor einer Bar lässt uns wieder Kräfte sammeln. Gegenüber ist eine Wand unterhalb
des Geländers kunstvoll gestaltet. Auf dem Wandbild erkennt man Pilger, die den
Weg weisen oder kranken Mitmenschen unter die Arme greifen. Sie stützen sich
auf einen Pilgerstab und tragen die Jakobsmuschel um den Hals.
Sie wirken geschunden vom
langen beschwerlichen Weg. Dagegen wird uns Neuzeitpilgern durch diese
Herbergsdichte und Rundumversorgung das Pilgern regelrecht versüßt. Wir rasten
übertrieben lange, denn an uns gehen zahlreiche Pilger vorbei. Je länger man
unter so einen Sonnenschirm sitzt und den Tag an sich vorbei plempern lässt,
desto lustloser wird man. Und wieder bewahrheitet sich mein täglicher Spruch
„Pausen tun uns gar nicht gut“, er wirft wie immer ein Stirnrunzeln in Heidis
Gesicht. Den Sinn des Pilgerns habe ich noch immer nicht begriffen. Alle
anderen gingen diesen Weg, um in sich hinein zuhören, um ihr Leben zu
überdenken, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten, aber ich renne den Camino ab,
als ginge es um eine olympische Disziplin mit Medaillenhoffnung.
Was sie nur von mir will? Ich
und in mich hineinhören, ich höre da nichts.
Eine SMS, die ich vor zwei
Minuten an meinen Freund Kurt, einen früheren Nachbarn, nach Heiligenstadt gesendet habe, wird wie immer auf dieser Reise von ihm umgehend erwidert. Kurt
und seine Frau Maria waren acht Jahre unsere direkten Nachbarn, bevor sie sich
entschlossen haben, zu ihrem Sohn ins Thüringische Eichsfeld zu ziehen. Sie
sind Katholiken und begleiten uns interessiert aus ihrer Wohnstube mit dem
Finger auf der Landkarte. Kurt ist ein
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