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Pausensnack

Pausensnack

Titel: Pausensnack Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsty McKay
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Tränen in den Augen, die vom Gas und von der Sorge um das Schicksal ihrer Eltern herrührten, ist sie vorsichtig auf die Autobahn gefahren, den Kopf noch voller gellender Sirenen und Korridore, in denen reglose Körper lagen. Auf der Straße kam man nur langsam voran. Ohne Schneeketten ist der Wagen immer wieder ausgebrochen und aus den fluffigen Schneeflocken wurde plötzlich Hagel, der auf die Windschutzscheibe prasselte. Lucy musste all ihre Konzentration zusammenraffen. Sie konnte definitiv nicht in das Haus ihrer Eltern zurück. Sollte sie zu ihrer Schwester fahren, sie warnen und einiges von ihren Sachen mitnehmen? Nein, zu gefährlich für beide. Dass sie dort hinfuhr, konnten die sich denken. Aber wohin sollte Lucy dann?
    Am Ende ist sie zum Flughafen Heathrow gefahren und hat den Wagen auf einem riesigen Parkplatz stehen lassen, weil sie instinktiv wusste, dass die danach suchen würden. Sie hat bibbernd auf einen Shuttlebus gewartet, dann das Flughafengebäude betreten und mit den Kreditkarten ihres Vaters so viel Geld abgehoben, wie sie konnte. Die bei Xanthro sollen denken, dass sie das Land verlassen hat; sie hat nicht vor, die Kreditkarten noch einmal zu benutzen. Anschließend ist sie in die U-Bahn gesprungen und hat den Rest des Tages in den hellen großen Geschäften der Londoner City verbracht. Diese Normalität war ein richtiger Schock. Lucy hat Stiefel, Jeans, ein Sechserpack billige Slips, zwei T-Shirts, einen Wintermantel und eine Mütze gekauft und die schicken Pumps am Oxford Circus traurig in einen Mülleimer geworfen. Sie hat überlegt, von einer Telefonzelle aus ihre Schwester anzurufen, bloß hatte sie keine Ahnung, was sie sagen sollte. Mum und Dad sind tot? Ich lebe noch, bin aber auf der Flucht? Bei Xanthro haben sie sich garantiert schon eine Verschleierungstaktik ausgedacht und werden ihrer Schwester bestimmt bald einen Besuch abstatten. Von nichts zu wissen dürfte für ihre Schwester das Sicherste sein. Wenn die auch nur einen Moment lang glauben, dass sie irgendetwas weiß, bringen sie sie auch noch um.
    Darum hat Lucy dem Impuls nicht nachgegeben, sondern sich in ein Café gesetzt, schwarzen Kaffee getrunken und eine Einkaufsliste mit Lebensmitteln und Sachen zur Selbstversorgung zusammengestellt. Es gab natürlich nur einen Ort, wo sie hinkonnte.
    Ihre Familie hat das Reihenhaus in Südlondon erst vor ein paar Monaten erworben, zunächst mit der Absicht, es zu vermieten. Damals hat Lucy gehofft, dass ihr Vater ihr irgendwann die Schlüssel überreichen würde. Sie hätte nie damit gerechnet, sie ihm einmal aus seiner erschlafften Hand klauben zu müssen.
    Eine weitere U-Bahn-Fahrt und einen anstrengenden Marsch durch den Schnee später kam sie in der Jontis Avenue 19 an. Das Haus war leer, kalt und feucht. Wegen der Arbeitsbelastung ihrer Eltern ist es weder zur Renovierung noch zur Vermietung gekommen. Möbel gibt es nicht viele. Ein Klappbett, das der Vorbesitzer zurückgelassen hat, und im Wohnzimmer einen kleinen Teppich, mit dem sie sich beim Schlafen zudeckt. Gott sei Dank funktioniert die Heizung. In den ersten Tagen hat es noch fließend Wasser gegeben, aber als sie heute früh den Hahn aufgedreht hat, ist nichts mehr gekommen. Eine zugefrorene Wasserleitung oder ein Grund, misstrauisch zu werden?
    Ohne den Teppich hat das Wohnzimmer nicht mehr zu bieten als einen guten Blick auf die Straße und Vorhänge, hinter denen man sich verstecken kann. Lucy hat ihre Tage dicht am Heizkörper verbracht und Ausschau gehalten. Die Jontis Avenue ist eine ruhige Straße und der beständige Schneefall tut sein Übriges. Die Leute bleiben in ihren Häusern.
    In einem Küchenschrank hat Lucy ein altmodisches batteriebetriebenes Radio gefunden, das sie täglich für ein, zwei Stunden einschaltet. Sie kennt die Nachrichten aus Schottland – von dem Geisterzug, von den Ausschreitungen während eines Rugbyspiels und von verschiedenen, nur teilweise aufgeklärten Zwischenfällen, bei denen Leute angegriffen worden sind; im Laufe der Woche haben »Aufstände«, soziale Unruhen und chaotische Zustände weiter zugenommen. Xanthro ist es nicht gelungen, die Sache einzugrenzen. Das empfand Lucy aus irgendeinem Grund als tröstlich; vielleicht hatte man dort viel zu viel zu tun und dachte gar nicht mehr an sie.
    Sie ist hübsch geblieben, wo sie war. Und weinen kam überhaupt nicht in Frage. Wenn sie sich das nur ein einziges Mal durchgehen ließ, würde sie nicht wieder aufhören können. Sie

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