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solchen Informationen gegeben. Stattdessen wurde ihnen klargemacht, dass nur sie selbst die Operation einordnen konnten, und das jede Information immer nur eine Expertenvorhersage sei, also aus der Perspektive eines Beobachters und einer vergangenen Erfahrung stamme. Jetzt sollten sie etwas anderes tun: die Ergebnisse nicht aus dem Blick ihres vergangenen Wissens, sondern ihres künftigen Lebens beurteilen.
Die Wissenschaftler forderten die Patienten auf, sich die Vorteile klarzumachen, »beispielsweise, dass man Zeit hat, seine Ziele zu sichten und zu prüfen, sich wieder intensiver den Freunden und Angehörigen zu widmen, deren Beziehung man als zu selbstverständlich hingenommen hat«. Im Ergebnis benötigte diese Gruppe weniger Schmerz- und Beruhigungsmittel als die informationsgesättigte Gruppe. Immer ging es darum, Fakten nicht als Gesetze anzuerkennen und stattdessen neue Hypothesen zu entwickeln; kurz »den eigenen künftigen Erfahrungen Bedeutung zu verleihen«. 149
In gewisser Weise wurden die Patienten »abgelenkt«. Aber diese Ablenkung bestand nicht darin, sie mit anderen Informationen zu füttern oder den Fernseher anzuschalten. Ihnen wurde klargemacht, dass selbst ärztliche Informationen kontextbezogen sind, keine hundertprozentige Aussage über die Zukunft treffen können und dass nur sie selbst es seien, die die Antwort geben. Diese Denkoperation, die genau nicht in Rezepten (Algorithmen) bestand, hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Patienten bei und nach der chirurgischen Operation. Mathematisch wären diese Ergebnisse, in der Lieblingsformulierung der Statistiker, »anekdotisch« gewesen. Aber für den Einzelnen steckt in dieser nicht verallgemeinerbaren Anekdote seine ganze Lebensgeschichte. Und eine also doch verallgemeinerbare Erkenntnis: Nicht die Information selbst, der Perspektivwechsel trainiert den Muskel.
Was zeigen diese Geschichten? Sie zeigen, dass, wenn wir unser Leben nicht an Statistiken hängen, wir im Zweifel besser damit fahren. Und Statistiken sind nicht nur Zahlentabellen: Sie betreffen jeden Informationsreiz, dem wir eine Bedeutung zumessen.
Warum aber fällt uns dieser Perspektivwechsel so schwer? Warum halten wir die »Gegen-den-Uhrzeigersinn«-Studie gern für Hokuspokus? Und warum wird diese Unfähigkeit zum Perspektivwechsel im digitalen Zeitalter bei manchen Menschen sogar zur Lebenskrise? Weil wir ständig alarmiert sind statt aufmerksam. Der Hauptgrund unserer Unfähigkeit zum Perspektivwechsel ist die Angst vor Kontrollverlust. Zur Bekämpfung der eigenen Unsicherheit brauchen wir das, was die Computer so perfekt beherrschen und was sie uns aufdrängen: eine statistische Vorhersage. Doch um die zu deuten, muss der Mensch selbstbewusst die Perspektive wechseln, um nicht nur einer Illusion von Kontrolle zu erliegen. Und in manchen Fällen entscheidet die Illusion über Leben und Tod.
Erinnern wir uns als Beispiel an die Fehldeutungen von Brustkrebs-Statistiken, die der Bildungsforscher Gerd Gigeren zer aufgedeckt hat.Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wirklich Krebs habe? Man würde meinen, dass es in Zeiten der Computer darauf eine allgemeinverbindliche Antwort gibt. Doch die Antworten der Ärzte variieren von 1 Prozent bis in den zweistelligen Bereich. Ein Drittel der Ärzte, die Gigerenzer befragt hat, darunter Klinikchefs mit langjähriger Erfahrung, gaben aufgrund der Statistiken eine Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent an.Wie lautet die richtige Vorhersage? Gigerenzer klärt die Ärzte auf, indem er die statistischen Daten auf ihre eigene Lebenswirklichkeit herunterbricht. »Stellen Sie sich 100 Frauen vor. Eine von ihnen hat Brustkrebs. Das ist 1 Prozent. Diese Frau wird mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit getestet. Von 99 Frauen, die keinen Brustkrebs haben, werden neun oder zehn Frauen positiv getestet. Wie viele von ihnen haben wirklich Krebs? Eine von zehn. Nicht 90 Prozent, nicht 50 Prozent, sondern eine von zehn.« 150
Ähnliches gilt für die Diagnose von Prostata-Krebs durch den PSA-Test, der die Gefahr einer Erkrankung sogar noch steigern kann. Die Untersuchung kann, wenn man sie häufig macht, das Positiv-Resultat selbst produzieren. »Es ist wie der Auto-Alarm, der dauernd angeht.« 151 Aber das Entscheidende ist auch hier, dass die einzig relevante Information der statistisch nicht verallgemeinerbare eigene Körper ist. Einer von vier Männern, die nicht an Prostatakrebs sterben, weisen bei der
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