Pechvogel: Roman (German Edition)
bräuchten.
Ich gehe an einigen Zeitungsautomaten für USA Today, den San Francisco Chronicle und SF Weekly vorbei und halte an, als ich auf dem Titel des Chronicle die Kurzfassung vom gestrigen Spiel der Giants sehe. Und in dem Moment fällt mir dieser Artikel ein, den ich heute Morgen über James Saltzman gelesen habe.
Ich schlinge den Rest von Apfelkrapfen und Mokka hinunter, zücke mein Smartphone und starte die Telefonbuch-App. Dann tippe ich den Namen Saltzman in San Francisco ein und scrolle runter, als die gewünschte Liste erscheint. Es gibt einen Barry Saltzman in der Jersey Street, einen Charles Saltzman in der Sechzehnten, eine Gloria Saltzman in der Zweiundzwanzigsten und einen James und eine Sheila Saltzman in der Greenwich Street Nummer 1331.
Bingo.
Ein Klick auf die Adresse von James und Sheila bringt mich zu Google Maps, und ein paar Sekunden später weiß ich, wo James Saltzman zu Hause ist: an der Ecke Polk und Greenwich, einfach die Straße runter.
Ich liebe die moderne Technik.
Vor zehn Jahren hätte ich mir ein Telefonbuch und einen anderen Anbieter suchen müssen, der mir die Adresse nachschlagen kann. Oder ich hätte mir bei Kinko’s oder einem anderen Geschäft für Bürodienstleistungen einen Computer mieten müssen. Heute aber habe ich alle nötigen Werkzeuge des modernen Glücksdiebes jederzeit griffbereit zur Verfügung.
Greenwich Street Nummer 1331 ist weniger als acht Blocks entfernt, und so gehe ich zu Fuß, um mir einen Angriffsplan zurechtzulegen. In T-Shirt, Jeans und Chucks sehe ich nicht gerade wie ein aufstrebender Politiker aus und wirke auch sonst nicht geschäftsmäßig genug, damit Leute wie James und Sheila beruhigt sind. Aus irgendwelchen Gründen respektieren Menschen Artgenossen mit Mantel und Schlips eher als solche, die wie der Schlagzeuger der nächstbesten Garagenband aussehen – selbst wenn es nicht um das Vorstellungsgespräch für einen Job geht. Obwohl man bei der Glückswilderei eigentlich genau das tut: sich für einen Job vorstellen.
Ich könnte nach Hause gehen, mich waschen und mir etwas halbwegs Respektables anziehen, aber so wie mein Tag bislang verlaufen ist, würde ich vermutlich entführt und unter Drogen gesetzt werden, noch ehe ich überhaupt daheim angekommen wäre. Deshalb entschließe ich mich, den freundlichen Nachbarn zu spielen, und hoffe, dass James Saltzman nicht all seine Nachbarn persönlich kennt.
Dabei fällt mir auf, dass ich rein gar nichts über James Saltzman weiß – mal davon abgesehen, dass er die letzten Home Runs von zwei der besten Schlagmänner gefangen hat, versteht sich. Weder weiß, ich wie alt er ist, noch kenne ich seine politische Haltung oder sein Lieblingsteam. Ich weiß nicht, ob er verheiratet ist. Ob er Kinder hat. Was er beruflich macht. Wer seine Freunde sind. Wo er gern essen geht. Wie oft er in den Stripklubs in North Beach vorbeischaut.
Normalerweise würde ich all das recherchieren, ehe ich mich meinem Opfer – und insbesondere seinem Zuhause – nähere. Es lässt sich nie genau voraussagen, ob so ein kleines bisschen Information nicht den feinen Unterschied zwischen einer erfolgreichen Jagd und einem Scheitern ausmacht. Andererseits ist das hier schließlich so was wie ein Notfall. Und in einer solchen Notlage neige ich dazu, die Dinge einfach ihren Lauf nehmen zu lassen. Wobei mein Vater mir ständig eingeredet hat, dass ich einen Notfall nicht von einer Sackgasse unterscheiden könne.
Sobald ich die Greenwich Street erreiche, gehe ich die Straße weiter hinunter und halte nach der gesuchten Adresse Ausschau. Anschließend wechsle ich auf die andere Straßenseite und hole mehrmals tief Luft, um meine Mitte zu finden. Das Stehlen von Glück erfordert höchste Fokussierung und Konzentration. Es ist fast schon ein spiritueller Vorgang. Mal davon abgesehen, dass man jemanden bestiehlt.
Ich gebe ja zu, dass ich mich manchmal mies bei dem fühle, was ich mache – wegen der Auswirkungen, die meine Tat auf das Leben der bestohlenen Menschen hat. Aber wenn man diese Art von Macht besitzt, ist es schwierig, sie nicht auch einzusetzen. Diese ganze Lebensart saugt einen immer weiter ein. Und ehe man sich versieht, ist man nur ein weiterer Gesellschaftsparasit, der vom Glück anderer profitiert.
Ein weiterer Grund, aus dem viele Wilderer schließlich Selbstmord begehen. Und eine Erklärung dafür, dass ich versuche, allzu viel Selbstreflektion zu vermeiden.
Sobald ich mich gesammelt habe, gehe ich
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