Pechvogel: Roman (German Edition)
die Stufen zur Vordertür des Hauses hinauf und klopfe an.
Keine Reaktion. Also drücke ich den Klingelknopf. Immer noch nichts. Ich klopfe erneut und hoffe, dass James Saltzman an diesem Dienstagmorgen im August zu Hause ist und nicht im Urlaub – oder, was noch wahrscheinlicher ist, bei der Arbeit.
Zehn Sekunden später öffnet ein Junge von etwa zehn Jahren die Tür und weicht dann ein Stück von mir zurück. Normalerweise würde ich einen geplanten Diebstahl abbrechen, wenn Kinder im Spiel sind, aber ich brauche unbedingt etwas Glück. Selbst wenn es nur fragwürdiges Mittleres Glück ist.
»Guten Morgen«, sage ich und schenke ihm ein Lächeln.
»Es ist Nachmittag«, sagt er.
Ich schaue auf meine Uhr und stelle fest, dass es fast ein Uhr ist. Verdammt. Wo ist nur der Rest des Tages geblieben? Da wird man zweimal von einem chinesischen Mafiaboss unter Drogen gesetzt, und schon verliert man die Zeit aus den Augen.
»Da hast du recht«, erwidere ich und lächle noch immer. »Mein Fehler.«
Er steht einfach da und starrt mich unbeeindruckt mit verschränkten Armen an.
Das passiert mir heute ständig.
»Was willst du?«, fragt er.
Ich bin nicht überrascht, dass er keine Manieren besitzt. Den meisten Kindern heutzutage geht es ebenso. Aber wenn man mich fragt, ist das nur eine direkte Folge ihrer schlechten Erziehung – sprich: ein Resultat des Verhaltens ihrer Eltern. Warum ich das mit absoluter Sicherheit behaupten kann? Weil ich erstens noch nie in meinem Leben etwas mit Kindererziehung zu tun gehabt habe und weil ich zweitens gern weitreichende Verallgemeinerungen über andere Leute aufstelle, die Dinge vollkommen in den Sand setzen, mit denen ich selbst nicht die geringste Erfahrung gemacht habe.
»Könnte ich bitte mit James Saltzman sprechen?«
»Mit dem Junior oder dem Senior?«
»Senior«, antworte ich. »Ist er zu Hause?«
»Wer will das wissen?«, fragt das Kind, das ich für den Junior halte.
»Paul Jefferson.«
Namen sind wichtig beim Wildern. Wer sich spontan einen Namen ausdenkt, landet bei so etwas wie John Smith oder Fabio Delucci. Aber Glücksdiebe brauchen einen Namen, der positiv klingt und den man leicht vergisst – einen Namen, den das Opfer gleich als angenehm empfindet und bei dem es sich entspannt.
Paulus – oder kurz: Paul – etwa war das Haupt-PR-Organ des Christentums, und meiner Erfahrung nach kommt der Name selbst bei Nichtgläubigen immer gut an. So weit zu Paul. Jefferson hingegen bezieht sich auf den dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Noch fast zweihundert Jahre nach seinem Tod weckt der Name Bewunderung und patriotische Gefühle bei allen. Auch wenn Jefferson sein eigenes Hasch anbaute und sexuelle Beziehungen mit seinen Sklaven unterhielt.
Ich denke mir, dass ein Zehnjähriger die Namen schon oft genug gehört hat und so sein Unterbewusstsein besänftigt wird.
»Paul Jefferson? Klingt wie ein ausgedachter Name.«
Oder auch nicht.
Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, und überdies klebt mir mein T-Shirt am Rücken. Was beunruhigend ist, weil ich beim Wildern niemals schwitze. Schwitzen ist ein Zeichen von Nervosität. Und Nervosität ist schlecht fürs Geschäft.
Noch einmal versuche ich es mit einem Lächeln, das allerdings nicht von Herzen kommt.
»Ist dein Vater zu Hause?«, frage ich.
»Kommt drauf an.«
»Auf was?«
»Auf das, was du von ihm willst.«
Nicht nur, dass mir ungewöhnlich warm ist, jetzt wird mir auch noch schwindelig. Und plötzlich frage ich mich, ob das Ganze eine gute Idee war.
»Ich hatte gehofft, mit ihm einige wichtige Nachbarschaftsangelegenheiten besprechen zu können.«
»Was für Angelegenheiten?«
Genau deshalb will ich nichts mit Kindern zu tun haben. Bei einem Erwachsenen stellt man sich schnell vor und schüttelt seine Hand – alles Weitere ist ein zusätzliches Plus. Bei Kindern ist es ein ewiges Wieso, Weshalb, Warum. Insbesondere, so scheint es, bei diesem.
Geduld war noch nie mein Ding.
»Es geht um die geplante Erschließung in Russian Hill.« Weder weiß ich, was ich da rede, noch habe ich eine Ahnung, wohin das führen soll.
»Was für eine Erschließung?«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du eine Menge Fragen stellst?«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du nach Katzenpipi riechst?«
»Jetzt hör mal zu«, sage ich und schaffe es gerade noch, den Zusatz du kleiner Scheißer wegzulassen, »ich will bloß mit deinem Vater sprechen.«
»Hast du einen
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