Pechvogel: Roman (German Edition)
es nicht«, entgegne ich und versuche mich zu erinnern, worum es mir denn ging. Ich glaube, es hatte etwas mit den Regeln des Wilderns zu tun, mit dem Eindringen in fremde Reviere. Aber plötzlich interessieren mich vielmehr ihre Pläne für das Mittagessen. Und ob sie einen Freund hat.
Das hat nicht bloß damit zu tun, dass sie niedlich ist. Da ist noch etwas anderes. Etwas, das nicht greifbar ist und das ich nicht ganz klar benennen kann. Und dann wird mir plötzlich bewusst, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben einer Frau gegenüberstehe, die verstehen könnte, was ich eigentlich tue – abgesehen von meiner Mutter und meiner Schwester, versteht sich.
Ich frage mich, ob sie jemals anderen Wilderern begegnet ist. Ob sie mich attraktiv findet. Und was sie in San Francisco macht.
»Was machst du hier?«, will ich wissen.
»Fragst du mich gerade grundsätzlich nach dem Sinn des Lebens, oder zielst du auf etwas Banaleres ab?«
»Was machst du in San Francisco?«
Ich vermute, dass sie für Tommy Wong arbeitet, aber ich möchte es aus ihrem Mund hören.
»Ist streng geheim«, antwortet sie mit einem Augenzwinkern. »Wenn ich es dir verraten würde, müsste ich dich ficken.«
»Wie bitte?«
Sie lächelt und neigt den Kopf. »Aber keine Angst: Ich habe keinen Sex mit Männern, die Pech wildern.«
Noch ehe ich etwas sagen kann, gibt sie Gas, jagt über die Union Street den Hügel hinab in Richtung North Beach und ist kurz darauf nicht mehr zu sehen. Ich frage mich, woher sie weiß, dass ich Pech gewildert habe. Wahrscheinlich war das nur eine lahme Ausrede, damit sie sich nicht erklären muss, aber so leicht lasse ich sie nicht davonkommen.
Vielleicht mache ich mir nur etwas vor, aber zumindest ich habe gespürt, dass der Funke übersprang. Dass etwas zwischen uns passiert ist. Und ich habe vor, herauszufinden, was es ist. Und was sie in meiner Stadt zu suchen hat.
Im Searchlight-Mini-Markt an der Hyde Street kaufe ich mir Schmerztabletten, eine Flasche Wasser, ein paar Rollen Mentos und eine Packung dieser Baby-Feuchttücher, mit denen ich mir das Blut abwischen kann. Allerdings kann ich damit nichts gegen das Blut auf meinem T-Shirt ausrichten, das mich irgendwie einschüchternd erscheinen lässt. Andererseits könnte es natürlich auch so wirken, als ob ich selbst eine Abreibung bekommen hätte. Also lasse ich es eben so, wie es ist, und verlasse den Laden, um mir meine nächsten Schritte zu überlegen.
Obwohl … Wem genau mache ich da eigentlich etwas vor? Als ob ich einen Plan hätte! Oder irgendeine Ahnung, was in dieser Situation zu tun ist. Bei Licht betrachtet habe ich lediglich Kopfschmerzen, ein blutiges T-Shirt und bin ein bisschen verknallt in eine Glücksdiebin.
Klar, sie ist schuld an meiner erfolglosen Jagd und meinen Kopfschmerzen und meinem blutigen T-Shirt. Aber ich bin bereit, ihr all das zu verzeihen, weil sie attraktiv ist und weil sie damit gedroht hat, mit mir zu schlafen. Außerdem hat sie es geschafft, mir binnen weniger Minuten zu beweisen, dass sie anders ist als jede Frau, der ich je begegnet bin. Zumindest wäre sie eine, mit der ich Sex haben könnte, ohne am Ende in der Talkshow von Jerry Springer zu landen. Von der Abneigung meiner Schwester zu mir einmal abgesehen, verstehen Glücksdiebe einander auf eine Art, auf die es ihnen mit normalen Menschen nicht möglich ist.
Und ich frage mich, ob das Roller-Mädchen mir vielleicht bei meinem Tommy-Wong-Dilemma helfen könnte.
Obwohl sie höchstwahrscheinlich für Tommy arbeitet, ist sie immer noch eine Glücksdiebin. Und so hoffe ich, dass ich mir unsere gemeinsame genetische Anomalie zunutze machen kann, um sie von meiner Sicht der Dinge zu überzeugen. Ich muss nur herausfinden, wie ich sie finden kann. Und wie viele andere Wilderer Tommy angeheuert hat. Also schnappe ich mir den Bus Richtung Innenstadt, um jemanden zu treffen, der mir möglicherweise bei der Beantwortung dieser Fragen helfen kann.
Kapitel 14
A m 28. Juli 1945 verflog sich Oberstleutnant William F. Smith junior im Nebel über Manhattan beim Anflug auf den Flughafen LaGuardia und raste mit seinem B-25-Mitchell-Bomber ins neunundsiebzigste Geschoss des Empire State Building. Die Treibstofftanks explodierten und spien Flammen in alle Richtungen. Die Aufzugbegleiterin Betty Lou Oliver hatte zu diesem Zeitpunkt Dienst im achtzigsten Geschoss. Die Explosion schleuderte sie fort, und sie erlitt schwere Verbrennungen. Dennoch überlebte sie den Vorfall, der
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