Pechvogel: Roman (German Edition)
entgegnet Tommy. »Genau das wollte ich hören.«
Es folgt eine unangenehme Stille. Ich bin nicht sicher, ob es an Tommy, mir oder der Leiche liegt, die ich anstarre.
»Also bezüglich des Geschenks, das Sie mir dagelassen haben«, sage ich und schaue S’iu Lei an. »Es passt einfach nicht zu meinem Büro. Kann ich es irgendwo umtauschen?«
»Ich schicke Ihnen jemanden, der Sie zum Essen ausführt.«
»Zum Essen ausführt? Ist das ein Code oder so?«
»Es ist der Code dafür, dass Sie gleich jemand zum Essen ausführt«, antwortet er. »Wenn Sie wiederkommen, ist Ihr Besuch nicht mehr da. Gern geschehen.«
»Toll. Gehen wir italienisch essen?«
»Ist mir egal. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie keine dummen Fragen stellen. Und enttäuschen Sie mich nicht. Sonst wachen Sie das nächste Mal vielleicht nicht mehr auf, wenn man Sie in eine Gasse schmeißt.«
»Gut zu wissen«, sage ich. »Übrigens: Sie haben nicht zufällig zehntausend Dollar in dem Rucksack gefunden, den Sie mir abgenommen haben, oder?«
»Nein.«
Dachte ich mir schon.
Dann legt er auf, und die Leitung ist so tot wie der Körper, mit dem ich jetzt wieder allein bin.
Aus reiner Neugier gehe ich noch einmal zu S’iu Lei, beuge mich herunter, strecke einen Zeigefinger aus und piekse sie in die Wade.
Kaum eine Minute später klopft es an meiner Bürotür.
Tommy hat mich unter Drogen gesetzt. Mich entführt. Mich wieder unter Drogen gesetzt. Mich bedroht. Und mich erpresst, für ihn zu arbeiten. Aber eins muss ich ihm lassen: Er lässt seinen Worten Taten folgen, und seine Geschwindigkeit lässt wirklich nichts zu wünschen übrig. Und das, obwohl es heutzutage wirklich nicht leicht ist, einen guten Kundendienst zu finden.
Als ich die Tür öffne, rechne ich mit ein paar Schlägertypen mit einem Wäschesack oder einer Kiste, vielleicht auch mit einer Stichsäge und Plastikplanen für die Wände. Mir ist schon klar, dass meine Phantasie mit mir durchgeht, aber gerade ist es eben ganz und gar nicht so wie im Rolling-Stones-Song Time is on my side: Ich habe nicht die Zeit, sondern nur meine Phantasie auf meiner Seite.
Statt einem von Tommys Männern steht das Roller-Mädchen auf meinem Flur. Die Kleine, die mir das Skater-Glück direkt vor der Nase weggeschnappt hat.
»Hey«, begrüßt sie mich.
Sie starrt mich mit großen, unschuldigen Augen unter dem niedlichen, kleinen Pony an, und ein frühreifes Lächeln spielt um ihre weichen Lippen. Wie frisch geschlüpft aus einer Anime-Zeichentrickserie. Mir klopft das Herz bis zum Hals, und meine Hände werden feucht.
Entweder hat sie Reines Glück dabei, oder ich bin im Begriff, mich zu verlieben.
»Bist du hier, um mit mir essen zu gehen?«
»Ja.« Sie nickt einmal, als ob ich die richtige Frage gestellt hätte. »Genau deshalb bin ich hier.«
Einen Moment lang stehe ich einfach nur da und schaue sie an. Als sie noch immer lächelnd den Kopf schieflegt, wünsche ich mir, ich hätte vor wenigen Minuten ein Minzdragee gelutscht.
Je länger ich sie betrachte, desto mehr erinnern mich ihre Augen und ihr Mund an Tuesday. Aber während Tuesday eher diese ausstaffierte Üppigkeit eines Filmstars zur Schau trägt, ist die Roller-Frau eher so wie das schöne Mädchen von nebenan. Niedliches, angenehmes Gesicht. Kein Make-up. Die Art von Frau, die man nicht nur begehrt, sondern in die man sich wirklich verlieben kann. Selbst dann, wenn sie in mein Wildererrevier eindringt, mich von ein paar Skatertypen zusammenschlagen lässt und anscheinend für Tommy Wong arbeitet. Andererseits arbeite ich jetzt ja selbst irgendwie für Tommy Wong. Also kann ich wohl kaum den ersten Stein werfen, ohne mein eigenes Glashaus zum Einsturz zu bringen. Oder eine Ehebrecherin zu treffen. Ach, egal.
Redewendungen und Metaphern waren noch nie mein Ding.
»Eine Sekunde«, sage ich, mache die Tür zu und ziehe mein blutbeflecktes Hemd aus. Dann schnappe ich mir ein marineblaues Sweatshirt von Gap vom Kleiderständer. Ich sehe noch einmal zu S’iu Lei, die wie eine vergessene, erotische Marionette zusammengesunken in der Ecke sitzt, trete hinaus auf den Gang und schließe die Tür hinter mir ab.
»So«, sage ich, »und was essen wir jetzt?«
Kapitel 18
W ir sitzen an einem Fensterplatz in Scala’s Bistro, einem gehobenen italienischen Restaurant neben dem Sir-Francis-Drake-Hotel an der Powell Street. Das Roller-Mädchen hat Spinat-Ziegenkäse-Tortellini bestellt, während ich meine Linguine mit Muscheln herunterschlinge.
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