Pechvogel: Roman (German Edition)
mir noch einen Blick über die Schulter zu, und ich denke mir, dass sich alles vielleicht doch irgendwie einrenken wird.
Von diesem Gedanken beseelt betrete ich mein Büro – und finde eine Leiche.
Kapitel 17
I n einem karg dekorierten Raum von kaum mehr als neun Quadratmetern gibt es nicht viele Verstecke für eine Leiche. Hinter der Tür, unter dem Tisch oder getarnt als weiße Gipswand oder verblichenes Kirschholzparkett – ansonsten sind die Möglichkeiten ziemlich begrenzt. Ich schätze, demjenigen, der die Leiche in der Ecke hinter meinem Schreibtisch positioniert hat, ging es nicht um Subtilität.
Nicht gerade das, was ich unter »alles wird sich schon irgendwie einrenken« verstehe.
Ich habe nicht viel Erfahrung im Umgang mit Leichen. Um genau zu sein, hatte ich noch nie mit einer zu tun. Die einzige tote Person, die ich überhaupt jemals gesehen habe, war meine Mutter, und das ist vierundzwanzig Jahre her. Und um ehrlich zu sein war das, was mich damals am meisten traumatisiert hat, nicht der eigentliche Unfall, sondern der Umstand, dass mein Vater mir die Schuld an ihrem Tod gab.
Und so starre ich nun auf den zusammengesunkenen Körper an der Wand, die leicht gespreizten Beine unter dem roten Kleid, den zur Seite geneigten Kopf, das schwarze, über das Gesicht hängende Haar, den offenen Mund und die leeren, dem Boden zugewandten Augen – und ich schreie.
Immerhin eine ehrliche Reaktion.
Der Schrei ist nicht lang und laut. Eher kurz und spitz. Dass mich jemand gehört hat, bezweifle ich, aber besonders stolz auf mich bin ich trotzdem nicht. Obwohl außer mir und der Toten niemand im Büro ist, bin ich peinlich berührt und versuche, mein Schreien herunterzuspielen. Als wäre ich mitten auf der Straße über meine eigenen Füße gestolpert und gäbe nun dem Bürgersteig die Schuld.
Nachdem der erste Schock vorüber ist, gehe ich zu der Toten hinüber und vor ihr in die Hocke, um zu überprüfen, ob sie auch wirklich tot ist. Anfassen tue ich sie nicht. Stattdessen schnippe ich mit den Fingern, klatsche in die Hände und beuge mich weit genug vor, um ihr ins Ohr zu pfeifen. Nichts. Kein Pieps, kein Zucken oder Lächeln. Sie sitzt nur da mit ihren weit aufgerissenen Augen, atmet nicht und wartet darauf, dass die Leichenstarre einsetzt. Sie tut also nicht nur so, als wäre sie tot, sie ist es tatsächlich. Das erklärt, warum sie nicht mehr nach Zucker, Zimt oder etwas anderem Nettem riecht.
Ich weiche ein Stück zurück, um uns etwas mehr Raum zu geben – eher mir selbst als ihr zuliebe –, und stelle fest, dass ihr Kleid an den Oberschenkeln hochgerutscht ist. Ich habe nicht gelogen, als ich Tommy sagte, dass Rot nicht mein Ding ist. Ist einfach nicht meine Farbe. Steck mich in Grün oder Blau, und ich bin startklar für jeden Anlass. Trotzdem steht mir Rot sicher noch immer besser als Tommys Süßer mit den toten Augen.
Ich suche S’iu Lei nach Blut ab, halte Ausschau nach Malen an ihrem Hals, nach Anzeichen eines Kampfes, nach irgendetwas, das mir verrät, was passiert ist. Aber ich finde nichts. Es wirkt, als wäre sie einfach so tot in der Ecke meines Büros zusammengebrochen.
Mir ist klar, dass das eine Falle ist. Entgegen der Einschätzungen meines Vaters bin ich kein Idiot. Das Problem dabei ist nur: Soll ich ihren Tod melden? Darauf warten, dass ihre Mörder mir zuvorkommen? Oder versuchen, die Beweise loszuwerden, ohne erwischt zu werden?
Ich könnte sie in einen Müllsack stecken und dann in den Müllschacht werfen, aber ich habe keine Müllsäcke, und außerdem darf übergroßer Müll nicht in den Schacht, weil der sonst verstopft. Ich könnte sie wie in der der Mafia-Fernsehserie Die Sopranos in kleine Stücke schneiden, damit es passt. Aber das wäre eine ganz schöne Sauerei, und abgesehen davon hatte ich schon in der Schule im Werken immer nur eine Zwei minus. Und wenn ich mir die Tote einfach über die Schulter werfen, mit ihr zur Vordertür herausspazieren und mir ein Taxi rufen würde, fiele das sicherlich auch unangenehm auf.
Die Leiche loszuwerden fällt also aus.
Warte ich so lange, bis ihr Mörder den Mord meldet, mache ich mich verdächtig. Das Letzte, wonach mir der Sinn steht, ist ein Haufen Polizisten, der in meinem Leben herumwühlt, meine Vergangenheit durchleuchtet und herausbekommt, dass ich nicht der bin, für den ich mich ausgebe.
Ich habe also nicht besonders viele Wahlmöglichkeiten.
Noch ehe ich realisiere, was ich da eigentlich tue, hole ich mein
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